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Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Graf
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die Stunden davor hatten es in sich, insgesamt brauchten sie gemäß Berechnung– aber was diese wert war, wusste er nicht– sechs Stunden bis zum Gipfel. Und von Anfang an ging es morgen bergauf, steilste Pfade, so schmal, dass man nicht aus dem Gleichgewicht kommen durfte. An einigen Stellen fiel der Hang auf der einen Seite senkrecht ab; an der anderen war ein Seil befestigt, an dem man sich festhalten konnte.
    Ein Rütteln an der Schulter holte André aus dem Schlaf, einem warmen, wohltuenden und tiefen Schlaf, der noch nicht lange gedauert hatte, vielleicht eine Stunde, viel zu kurz, um aufgeweckt zu werden.
    » Hör mal « , sagte Louise.
    » Was? «
    » Na, das Geräusch. «
    » Das ist der Wind « , sagte er, verärgert, weil sie ihn wegen dieses völlig normalen Pfeifens geweckt hatte, und drehte sich zur Seite, von Louise weg.
    » Ich kann einfach nicht schlafen « , sagte sie, » obwohl ich müde bin. Morgen werde ich noch müder sein. «
    » Dann schlafe! « , befahl er ungeduldig.
    Sie setzte sich auf und begann, in ihrem Rucksack zu kramen. Schaltete die Taschenlampe an und studierte etwas, vielleicht las sie in einem Buch.
    Als er ein zweites Mal aufwachte, hatte Louise soeben den Reißverschluss ihres Schlafsackes geöffnet. Sie fädelte ihre Beine in die Hose ein.
    » Brrr « , machte sie, » eisekalt. «
    Er drehte sich zu ihr um; das Licht der Taschenlampe blendete ihn. Er spürte, dass seine Wange zerknittert war, und so fühlte er sich auch, als Ganzes zerknittert; er wollte weiterschlafen.
    Sie müsse mal, sagte Louise.
    » He « , sagte er, » pass auf. Nicht, dass du irgendwo hinunterfällst! «
    Sie schlüpfte in die Wanderschuhe, ließ die Schnürsenkel offen, zog den Reißverschluss des Zeltes auf und ging hinaus, wo sie wieder ihr frierendes » Brrr « von sich gab.
    Nun war es endlich ruhig, abgesehen vom Pfeifen des Windes, das ihn jedoch nicht störte. Er hätte schlafen können. Doch er fragte sich, weshalb Louise nie auf ihn hören konnte, weshalb sie die Hose nicht wie von ihm geraten mit in den Schlafsack genommen hatte. Er ärgerte sich, versuchte sich zu beruhigen, und just, als er die wohltuende Schwere spürte, die ihn in den Schlaf hinüberzog, ging, ritsch!, der Reißverschluss des Zeltes auf.
    Wortlos und bibbernd kroch Louise herein. Für einen Moment kauerte sie auf allen vieren, als suche sie etwas. Dann zog sie die Kleider aus, platzierte sie wieder zusammengefaltet neben sich auf den Zeltboden und legte sich in den Schlafsack, den sie offen liegen gelassen hatte und der längst ausgekühlt war.

14 – Zerknitterter Tagesbeginn
    André schlüpfte aus dem Zelt, gerade als die ersten Sonnenstrahlen es über die Bergkette zum Lagerplatz schafften. Auf sein Gefühl für Zeit konnte er sich verlassen, oder war es Intuition? Er wusste es nicht. Er konnte auch den Regen riechen, Stunden, bevor er kam.
    Aus dem Schlafsack zu steigen war eine Qual gewesen, und als er draußen in der Kälte stand, zögerte er einen Moment– ein kurzes Innehalten seiner zielgerichteten Bestrebungen–, doch er ließ sich nicht beirren: er wusste aus Erfahrung, dass der Augenblick des Aufstehens und die Minuten danach hart waren; da musste man durch. Auch jetzt, wie früher bei den Pfadfindern so oft, versuchte die Kälte, ihn zurück in den Schlafsack zu treiben, und die Knochen verlangten nach Ruhe, waren schwer und taten weh.
    Auf dem spärlichen Gras in den Steinmulden lag Tau. Die Sonnenstrahlen besaßen eine angenehme Wärme, aber der kalte Wind verdarb die Freude darüber. Am besten, sie zogen später, um beim Frühstück nicht frieren zu müssen, ihre winddichten Regenjacken an.
    André streckte sich, tat zwei oder drei Turnübungen, die er noch vom Sportunterricht an der Schule zu kennen glaubte. Er fühlte sich so zerknittert wie ein Kriegsveteran. Mit vor Müdigkeit fast zugeschwollenen Augen schaute er auf ihr kleines Lager, das sie bereits in einer Stunde abgebrochen haben mussten, dann setzte er den Gaskocher an die windgeschützte Stelle, zündete ihn an und machte Kaffee, den er nur mitgenommen hatte, weil Louise sich dies gewünscht hatte. Ohne Kaffee stand sie nicht auf, konnte sie nicht aufstehen. Mit vom Schlaf noch immer verklebten Augen, mit steifen Bewegungen bereitete er das Frühstück vor und packte zusammen, was nicht mehr gebraucht wurde.
    Da Louise nicht aufgestanden war, kniete er sich in den Zelteingang, mühsam, noch immer fühlte sein Körper sich steif an. Sie

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