Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Graf
Vom Netzwerk:
Erstes käme, dann rasch über eine ebene Fläche hin zum Berg und die letzten harten Stunden unterhalb des Gipfels bewältigen, was wegen Tiefschnees besonders anspruchsvoll sein würde, und endlich klettern, während fünf oder zehn Minuten sein Können unter Beweis stellen. In der Kletterhalle war er wie ein Affe unterwegs, bei überhängenden Stellen schwang er sich mit gestrecktem Arm von einem Griff zum nächsten– wie es die Affen im Zoo taten.
    André schaute nach hinten, nachdem ihm aufgefallen war, dass er sich kaum noch nach Louise umsah, und nahm aus dem Blickwinkel heraus wahr, wie sie ängstlich um eine Kurve bog, sich mit beiden Händen an dem Stahlseil festhaltend, den Blick abwechselnd nach hinten in die Tiefe hinunter und nach vorn zur Bergwand gerichtet, hinauf, als befürchte sie, ein herunterfallender Stein könne sie erschlagen. Doch dafür stand sie zu nah an der Wand, die senkrecht, wenige Meter weiter oben sogar leicht überhängend war.
    Versöhnlich blieb er stehen, machte eine hüpfende Bewegung, damit der Rucksack nach oben sprang und er die Schultergurte und den Hüftgurt anziehen konnte.
    » Diese Felsen « , sagte Louise, als sie näher kam, unsicher wie nach einer Operation, » mir ist ganz flau im Magen. «
    » Du hättest etwas essen sollen. In der Kletterhalle macht dir das alles auch nicht zu schaffen. «
    Das könne man nicht vergleichen, sagte Louise und fügte an, dass ihr die Seen und Wälder in ihrer Heimat schon lieber seien.
    » Dafür wird man dort von den Mücken zerstochen « , sagte André schaudernd.
    Es war immer dasselbe. Auch er hatte sich an die flache Landschaft in und um Berlin, in Brandenburg gewöhnen müssen, was am Anfang nicht leicht gewesen war. Diese weiten Ebenen– eine desillusionierende Eintönigkeit. In Mecklenburg-Vorpommern gab es wenigstens kleine Hügel, die zumindest ansatzweise mit dem Flachland in der Schweiz vergleichbar waren. Nun sah Louise, wie es ihm in Deutschland erging. Und jetzt wanderten sie für einmal nicht auf der Seenplatte, sondern in den Bergen, und sie beklagte sich, wie furchtbar das alles sei.
    » Langsam kann ich nicht mehr « , sagte Louise, als sie neben ihm stand.
    Aus Erfahrung wusste er, dass bei einer Wanderung diejenigen, die am lautesten jammerten, noch über die meiste Energie verfügten. Man konnte sie getrost weiterwandern lassen, durfte nicht nachgeben, gar nicht erst anfangen, sie zu verhätscheln. Sorgen musste man sich um jene, die still waren, still vor sich hin litten, keine Kraft mehr zum Jammern hatten und womöglich auf einmal zusammenbrachen.
    Mit dem Unterarm wischte er sich den Schweiß aus der Stirn. Er schaute Louise nicht an, blickte zu Boden, auf ihre Wanderschuhe.
    » Die Mittagspause ist in zwei Stunden « , sagte er knapp. » Dann solltest du ordentlich essen. «

15 – Trennung
    Die Mittagspause nutzte Louise dazu, Trübsal zu blasen, statt den Löffel in ihr Essen zu stecken und in den Mund. Sie hatte weder Brot noch Bauernschüblig gewollt, von dem er gleichmäßige Scheiben für sie abgeschnitten hatte, darauf hinweisend, dass es nichts Schöneres gebe, als bei einer Wanderung Brot mit Bauernschüblig zu essen.
    Doch auf Wurst hatte Louise keine Lust. Und das war der Schüblig in ihren Augen, eine ganz normale Wurst. Eben eine aus der Schweiz, aber nicht anders als Würste aus anderen Ländern. Das war für ihn, der ihr diese Schweizer Spezialität hatte zeigen wollen, wie eine Faust ins Gesicht.
    Sie wollte etwas Warmes essen. Also packte er den Gaskocher aus, goss Wasser in die Pfanne und kochte Reis.
    Ob er Schüblig in den Reis hineinmachen solle, fragte er; sie verneinte umgehend. Sie hatten noch Trockenfrüchte, doch auch diese wollte sie nicht.
    Sie war unzufrieden mit ihrem Reis ohne Beilagen. Das gehe doch nicht, meckerte sie; sie könne gerne in das nächste Dorf hinuntergehen und auserlesene Zutaten für ein Festmahl kaufen, antwortete er.
    Sie saß da mit Löffel und Teller in der Hand, blickte nur auf das fade Naturbraun in dem Teller, und nun, da sie nicht aß, wurde André erst richtig wütend. Das Wasser für den Reis war verloren, Wasser, von dem nicht mehr viel vorhanden war.
    Als müsse die Zeit für das Mittagessen, eine Stunde, auf jeden Fall für Essen und Ruhe aufgewendet werden, blieben sie sitzen. Dabei hätten sie ebenso gut weiterwandern können. Der Eingang des Kamins wartete keine zehn Meter neben ihnen. Davor ein kleines Feld aus Schnee, der hier an schattigen

Weitere Kostenlose Bücher