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Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Graf
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und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass er hätte in die Luft gehen können. In solchen Momenten war es ihm zu dumm mit Louise, fragte er sich, weshalb er sich den Umgang mit diesem störrischen Esel aus Mecklenburg-Vorpommern antat. In solchen Momenten fehlte nur wenig, und es wäre für ihn in Ordnung, den Tag oder das Wochenende getrennt zu verbringen. So hätte er immerhin seine Ruhe.
    Sie wanderten pünktlich los, ohne dass Louise gefrühstückt hatte, weshalb er etwa gleich unzufrieden war, wie wenn sie beide gefrühstückt hätten, aber zu spät losgegangen wären. Er liebte Pläne, und war er allein, gingen seine Pläne auch auf; mit Louise kam fast immer etwas dazwischen. Dass sie nicht gefrühstückt hatte, würde sich rächen. Er wusste nicht, ob er sich nicht weiter darum kümmern oder ob er versuchen sollte, bei der ersten längeren Pause Louise zum Essen zu bringen.
    Missgestimmt schritt er voran; bei dem Tempo würde sie bald merken, dass es klüger gewesen wäre, Kraft zu tanken. Der Pfad war schmal und steil, auf blankem Fels, der an einigen Stellen wie poliert aussah. Immer wieder, bei kleinen Brücken oder wenn der Pfad für zwei-drei Meter noch schmaler wurde, war auf der rechten Seite, der Hangseite, ein Halteseil an den Felsen angebracht; links ging es weit hinunter.
    Da, auf der linken Seite, lag das Panorama, ein unendlich sich hinziehendes Berggipfelmeer, und hier war der Beweis, dass die Schweizer auf Berge stiegen, um dem Gefängnis zu entkommen. Hier sahen die Bergspitzen aus, als sei es ein Leichtes, über sie hinwegzuhüpfen, jeden einzelnen sanft mit der Fußsohle antippend, über sie zu gleiten wie über Wellen– hier oben war nichts von der dunklen Enge des Tales!
    Von links schien die Morgensonne frontal an die Felswand, in der sie gingen, kräftig genug für einen baldigen Sonnenbrand, wenn sie sich nicht schützten. Diese Sonne würde zum Mittag und Nachmittag hin eine gehörige Wucht entwickelt haben. Mit der Hitze hätten sie heute noch zu kämpfen, obwohl sie doch eben erst beim Frühstück gefroren hatten– das konnte André schon jetzt sagen, er hatte die Erfahrung bereits Dutzende Male gemacht.
    Er ging nicht eben leichtfüßig. Die Beine ließen sich nur schwer bewegen, Schultern und Hüfte schmerzten noch von gestern und vorgestern. Er war sofort in seinen Trott gekommen, so, als hätte er am Tag zuvor gar nicht zu wandern aufgehört, aber dieser Trott war eine Mühle, die nur langsam und mit Ächzen arbeitete. Die Fußsohlen taten weh, waren empfindlich geworden, bis tief in das Fleisch hinein.
    Zweifelsfrei war die Tour anstrengend, selbst für ihn eher eine Überforderung denn eine Herausforderung, vor allem, weil sie mehrere Tage dauerte, Erholung kaum möglich war. Doch man konnte ein Abenteuer, ein richtiges Abenteuer nicht mit Bequemlichkeit haben. Andrés schönste Erinnerungen hatten nur aufgrund ihrer Extreme entstehen können: extreme Belastungen, extreme Überforderungen.
    Und deswegen war es richtig und wichtig, dass sie diese Bergtour nur mit Mühe und Not schafften; genau dies hatte er doch bei der Planung gewollt! Er hatte eine an sich schon anstrengende Wanderung herausgesucht und dann noch obendrauf gelegt, indem es mehrere Tage sein, indem es am Ende eine Kletterpartie geben musste. So war er nun einmal; er nahm es mit Humor, obwohl er sich in der Felswand abmühte, und alle, die mit ihm unterwegs sein wollten, benötigten ebenfalls Humor.
    Ein besonders schmales Stück, das um eine Ecke des Felsmassivs herumführte, an dem ein Sicherungsseil angebracht war, nahm André mit Tempo und völliger Gelassenheit, als biege er auf einem Waldweg um eine Kurve, die rechte Hand an dem Seil entlangführend, keinen Blick nach links, wo es senkrecht hinunterging, wer wusste, wie weit.
    Überhaupt nahm er wenig wahr. Die morgendliche Zerknitterung, die Morgenverschlossenheit war nahtlos in eine Vormittagsverschlossenheit übergegangen; längst hatte er genug gesehen von grauen, geometrischen Flächen, Schluchten, Graten in der Ferne, länglichen Schneefeldern, die unten in einer Spitze endeten, öden Schuttfeldern, magerem Berggras, nur andeutungsweise sichtbaren Bächen, einzelnen dinosauriergroßen Felsen, die dastanden wie einsame Bäume, blendenden Lichtreflexionen von Gletschern und vom Schnee, dem schmerzenden Gelb der Sonne, dem unermüdlich beruhigenden Blau des Himmels. Genug. Er wollte hinauf. Wollte durch den Kamin, der nach der Mittagspause als

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