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Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Graf
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entdeckte etwa zehn oder zwanzig Meter über sich– die Meterzahl war schwer abzuschätzen, das Gefühl dafür war ihm auf einmal abhandengekommen, als sei er in einem Zustand der Panik– einen der Länge nach verlaufenden Riss im Schnee. War er schon vorher da gewesen oder erst jetzt entstanden?
    André erstarrte, gefror zu Eis. Er hielt den Atem an, als könne er so auch den Fortgang des Geschehens anhalten. Doch er war bereit– bereit zu reagieren, wenn eine Lawine losging, mit Armen und Beinen zu schwimmen, um sein Leben zu schwimmen, damit er oben bliebe, zu schwimmen wie im Süden im Meer.
    Nichts geschah.
    Noch immer erstarrt, die Zeit anhaltend, konnte er überlegen, was zu tun war. Umkehren oder weitergehen? Sogleich sagten ihm sein Gefühl, sein Bauch, oder war es sein Ehrgeiz?, dass es nicht klug war, denselben Weg noch einmal zu gehen, dieselben Stellen noch einmal mit seinem Gewicht zu belasten. Aber wenn er weiterginge und am rettenden Ufer ankäme– wie gelangte er am nächsten Tag bei seinem Abstieg wieder zurück?
    André besann sich darauf, einen Schritt nach dem anderen zu machen. Diese Aufgabe konnte er später noch immer lösen. Er ging weiter, ruhig, unbeirrt, und hielt mit seinem Willen den Schnee fest.

19 – Wille
    Den Rucksack in den Schnee gesetzt, den einen Fuß in den Hang gestellt, die Unterarme auf das angewinkelte Bein gestützt, so stand André da und blickte zufrieden auf das rutschige Feld zurück, das er soeben durchquert hatte. Seine gute Laune wurde einzig dadurch getrübt, dass Louise nicht dabei, nicht Zeugin seines Könnens war. Erzählte er ihr später von diesem Rutschfeld, einer Lawine in Startposition, würde sie ihm nicht glauben; bestimmt hielte sie ihn für einen Angeber.
    Dabei war seine Leistung, die Art und Weise, wie er dieses Abenteuer im Abenteuer durchgezogen hatte, famos gewesen. Der Deutsche, der bequem in der Berghütte arbeitete, dieser Gute-Laune-Mensch, diese Frohnatur, dem Louise sofort auf den Leim gegangen war, der hätte vor diesem Feld kapituliert wie ein Meerschweinchen, das vor einem Hindernis stand. Vermutlich aber hätte er es nicht einmal bis hierher geschafft, bereits das Schneemeer wäre über seine Kräfte gegangen, möglicherweise sogar der Kamin. Für ihn als Erzgebirgler lag selbst die Berghütte auf einer Höhe, die schwindelerregend war. Vermutlich ging er jeden Abend mit Kopfschmerzen ins Bett.
    André ärgerte sich, dass Louise seine Leistung nicht sah. Ohne Zeugen war eine solche Tat wertlos. Niemand würde ihm glauben. Leider hatte er keinen Fotoapparat dabei, um das Abenteuer wenigstens zu dokumentieren.
    Denn was er Louise anhand dieser gefährlichen, die Nerven vernichtenden Durchquerung hätte demonstrieren können, war die Richtigkeit eines Satzes von Lord Baden-Powell of Gilwell, dem Gründer der Pfadfinderbewegung:
    » Wo ein Wille, ist auch ein Weg. «
    Dieser Satz, den er bei den Pfadfindern bereits früh gelernt hatte, vielleicht im Alter von acht oder neun Jahren bei der Jungwolfprüfung, war ihm bald zu einer Stütze, zu einem Leitstern geworden, der ihn durch das Leben führte. Auf diesen Satz– man musste nur an ihn glauben– war Verlass. Mit seinem Willen erreichte man alles oder, anders formuliert: man erreichte genau das, was man erreichen wollte.
    Nichts da mit Jammereien, mit Ausreden, einer Blase am kleinen Zeh, einem schmerzenden Knie, mit Klagen, dass es zu spät sei, einen neuen Beruf zu wählen, mit der Gemeinheit der anderen, die gegen einen waren, mit der Ungerechtigkeit des Schicksals, einer Phase des allgemeinen Unwohlseins, einem ungünstigen Biorhythmus… Alles Quatsch.
    Der Satz forderte ein Maximum an Eigenverantwortung. Man sollte sein Schicksal selbst in die Hand nehmen und nicht auf Hilfe warten. Die Befolgung des Satzes führte zu einer Haltung, mit der man aufrecht durch das Leben ging, selbstbewusst und zufrieden. So war es bei ihm gewesen, und so war es noch immer.
    Der abenteuerliche Hike, den er als kleiner Junge bei den Pfadfindern überstanden hatte, war die Vorführung, das Durchleben dessen gewesen, was der Satz meinte. Während dieser drei Tage mit viel zu schwerem Gepäck war sein Wille gereift wie das Immunsystem eines Kleinkindes, das mit einer Krankheit oder einer Infektion zu kämpfen hatte und deshalb stark wurde. Auf diesem Hike hatte er, wenn er glaubte, dass die Kräfte ihn verließen, den Satz in Gedanken immer wieder aufgesagt, lief dem Satz hinterher wie ein Esel einer

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