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Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Graf
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daran, an ihrer Wohnungstür zu klingeln. Nein, Louise war weg, jetzt trennte der Berg sie beide wie das Meer sie trennen würde, wenn Louise in Afrika oder Südamerika wäre. War sie noch Teil seines Lebens? Sein Leben, das war nun der Gang durch den Schnee, die Bezwingung des Berges.
    Vor André, der seit einigen Minuten nicht hinauf-, sondern an dem Hang entlanggegangen war, eröffnete sich eine steil abfallende Fläche, wie eine weite Bucht in den Berg hineingewölbt; gemäß Karte ein Schuttfeld, ein breites Steinrutschgebiet, das unter Schnee lag.
    Bei den Pfadfindern, auf jenem Hike, der für ihn besonders wichtig geworden war, hatten sie, damals im Hochsommer, aus einer Dummheit heraus ein solches steiles Schuttfeld zu durchqueren versucht. Der verantwortliche Leiter war leichtsinnig, übermotiviert gewesen; denn: wie auf der Karte eingezeichnet war, fiel das Feld etwa achtzig Meter unterhalb der Stelle, wo sie es zu durchqueren versuchten, mehrere Meter senkrecht ab– tödlich für denjenigen, der hinunterfiel.
    Sie waren etwa zehn oder zwölf Leute gewesen, davon zwei Leiter, die Kinder zwischen elf und vierzehn Jahren. In einer Reihe, der verantwortliche Leiter vorne, der andere hinten, durchquerten sie sorgfältig das rutschige Feld; sie schlichen, glitten eher, als dass sie schritten, um keinen der kantigen, klappernden Steine ins Rollen zu bringen, um nicht plötzlich mit dem einen Fuß wegzurutschen, und doch mussten sie in den Schutt einen Pfad hineintreten. Alle hatten sie Angst, und vor Angst zitterten, wackelten die Beine. Nicht viel fehlte, und sie wären in Panik ausgebrochen.
    Nach einer Stunde, sie hatten noch nicht einmal die Mitte des Feldes erreicht, kehrten sie um, gaben auf. Nun war die Angst noch größer, ein Ausbruch der Panik noch näher. Doch sie kamen wohlbehalten zum rettenden Ufer zurück.
    Dachte André heute daran, konnte er sich nur an den Kopf fassen. Wie sehr hatten die Leiter damals das Glück herausgefordert! Wie leicht wäre es möglich gewesen, dass ein oder mehrere Kinder den Hang hinunterstürzten, aufgrund eines Fehltritts oder eines Panikausbruchs, und was wäre dann geschehen? Einmal ins Rutschen gekommen, hätte es kein Halten gegeben. Das Kind oder die Kinder wären wie auf einer Rutschbahn ungebremst auf den senkrechten Abhang zugeglitten– und dann? Nicht auszudenken.
    André war allein. Keine Kinder hatte er dabei, nicht einmal Louise, für die er sich verantwortlich fühlte. Keine anderen Wanderer waren da, die er hätte mit sich reißen können. Niemand konnte in Panik ausbrechen und eine Lawine auslösen, nur er selbst.
    Er sagte sich, dass es damals zwar richtig gewesen war, noch vor der Mitte des Feldes umzukehren, er das Feld aber trotzdem gerne ganz durchquert hätte. Die Kapitulation von damals ärgerte ihn noch heute; immerhin war ihm nun so etwas wie eine Revanche möglich.
    Es war zu schaffen. Vielleicht geschah auch ein Unglück, vielleicht kam er ums Leben, aber in diesem Moment war er der Meinung, dass ihm das Abenteuer dies wert war. Lieber aufs Ganze gehen und ein kurzes Leben, als ein ewig langes Leben ohne Würze.
    Mit größtmöglicher innerer Ruhe betrat er das steile Schneefeld, setzte selbstbewusst einen Fuß vor den anderen, atmete kaum hörbar, denn auch ein Schrei oder ein Atemzug, so schien es in der totalen Stille, konnte eine Lawine auslösen. In Gedanken jedoch sprach er mit dem Feld. Er hielt es fest, hielt es zusammen mit seinem Blick, der so stark war, als würde er Lawinenverbauungen hineinbohren.
    Für den liegenden Schnee bestand, dachte André, kein Anlass, ins Rutschen zu kommen. Denn er, André, war Schnee. Er war Schnee, der leise auf Schnee rieselte.
    Er vermied Bewegungen mit dem Oberkörper. Nur die Arme balancierten, falls nötig. Die Beine taten langsame, zarte Schritte, ein Fuß vor den anderen, so sanft, dass der Berg es nicht spürte.
    So kam er Meter für Meter voran, drang tiefer und tiefer in das rutschige Feld hinein.
    Mit einer leichten Drehung des Kopfes, die nur vom Hals ausging, nicht auch nur ansatzweise vom Oberkörper, wagte er einen Blick nach rechts, nach oben, auf den oberen Teil des Feldes, um zu prüfen, ob alles in Ordnung war. Allein diese Kopfdrehung bewirkte, dass sein Gewicht sich auf das linke Bein verlagerte, das hangabwärts stand, und er einige Zentimeter tiefer in den Schnee einbrach. Er fing sich auf, sicher wie ein Akrobat. Nichts war geschehen. Nun konnte er nach oben schauen, und er

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