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Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Graf
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Rübe, die man ihm mit einem Stecken vor die Nase gebunden hatte. Und als er stark geworden war und seinen Pfadfinderkollegen davonmarschierte, da wusste er, was der Satz, den er bereits vor Jahren auswendig gelernt hatte, wirklich bedeutete. Er hatte den Satz erlebt, ihn verinnerlicht; er war der Satz.
    Seither, spätestens nach einigen ähnlichen Erfahrungen als Jugendlicher, wusste André im tiefsten Innern, dass er, solange er seinen Glauben an den Satz nicht verlor, im Grunde unbesiegbar war. In all den Jahren, immerhin rund ein Vierteljahrhundert, hatte er mit seinem Willen alles erreicht, was er unbedingt hatte erreichen wollen. Selbstverständlich hatte es immer wieder Dinge gegeben, die ihm nicht wichtig gewesen waren, Gelegenheiten, die er sausen ließ, kleine Misserfolge, über die er später lachen konnte.
    Als er jetzt jedoch dastand, das eine Bein stolz in den Hang gestellt, jenes, dessen Knie ähnlich schmerzte wie der Kopf bei einer beginnenden, besonders starken Migräne– ein Leiden, das er als Kind gehabt hatte, auch heute noch war er wetterfühlig–, und auf das weite Rutschfeld zurückschaute, das er so unauffällig wie ein Vogel überquert hatte, da wusste er, dass er den Gipfel erreichen würde. Jetzt war er nicht mehr aufzuhalten.

20 – Der zweite kleine Unfall
    André glaubte, nur unmerklich weiterzukommen, wertvolle Zeit zu verlieren, als er den anvisierten Ausläufer hochkraxelte, der so schmal und steil war, dass er scheinbar direkt auf den Gipfel führte. In Wahrheit ging er lediglich in den Kamm über, der, optisch einer Staumauer ähnlich, die Zacken des Berges miteinander verband und bei der höchsten, dem Gipfel, endete. André war genervt; genervt vom Berg, von Louise. Seine Bewegungen, sein Vorankommen sahen langsam aus, aber in Gedanken drechselte er Sätze, rasend schnell, Sätze, die er Louise sagen wollte, Sätze über Louise, tödlich wie Schüsse.
    Die Trennung von ihm, die Kapitulation vor dem Berg, der Abstieg hinunter in gemäßigtere Zonen– das war schwach gewesen, damit hatte sie es sich zu einfach gemacht. Wo war ihr Wille geblieben? Sie hatte ihn stehen lassen und war gegangen; was aus ihm wurde, war ihr egal.
    Das passte zu ihr. So handelte nur jemand, der sich selbst einen neuen Namen gab; einen neuen Namen– als könne man auf diese Weise ein neues Leben beginnen, das alte wie mit einem Schwamm wegwischen. Aber was hatte sie wirklich verändert? Sich eine neue Stelle gesucht? Ein Studium begonnen? Nicht einmal die Wohnung, diese dunkel nach Norden ausgerichtete Grotte, prädestiniert für Schimmelbefall, hatte sie gewechselt, geschweige denn war sie in den Westen Berlins gezogen, näher zu ihm hin. Nein, im Westen wollte sie nicht wohnen. Er wäre durchaus in den Osten gezogen, aber zusammenzuziehen wäre schwierig geworden: Louise besaß eine Unmenge an Dingen, die sich über die Jahre angesammelt hatten, und es fiel ihr schwer, etwas wegzuschmeißen. An allem hing irgendeine Erinnerung. Und so hatte sie es auch nicht fertiggebracht, ihre Wohnung zu kündigen. Folglich behielten sie den langen Weg zueinander, vierzig Minuten mit S- und U-Bahn. Jedes Mal mussten sie packen, wenn sie sich sehen wollten, als würden sie in den Urlaub fahren.
    André war der Meinung, dass Louise fast immer nur halbe Entscheidungen traf. Sie wich ihnen aus, und wenn sie doch eine fällen musste, dann so, dass sie niemandem wehtat.
    In all den Wochen der Vorbereitungen hatte sie nie gesagt, dass sie auf die Wanderung keine Lust hatte. Erst jetzt, als es, wie sie glaubte, nicht mehr anders ging und nachdem sie lange rumgemeckert hatte und trotzig hinterhergelaufen war, gerade jetzt, kurz vor dem Ziel, vor der Kletterroute, die er doch unbedingt hatte hochsteigen wollen, gerade jetzt stellte sie auf stur und wollte partout nicht weiter.
    Bei Louise wusste er nie, woran er war. Gerne hielt sie Dinge im Geheimen, brütete Vorhaben aus und rückte erst spät damit heraus. So hatte sie ihm nicht zu Beginn ihrer Beziehung erzählt, dass Louise nicht ihr richtiger Name war, sondern erst vier Monate später. Er war aus allen Wolken gefallen. Keineswegs fühlte er sich hintergangen, enttäuscht jedoch war er, dass sie ihm das erst so spät gesagt hatte. Sie schien niemandem richtig zu vertrauen, und das machte sie ihm suspekt. Welche Geheimnisse hielt sie noch verborgen?
    Er hatte damals gleich gedacht, dass ihr Verhalten von geringem Selbstvertrauen zeuge oder sogar krankhaft sei. Heute

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