Niederschlag - ein Wyatt-Roman
aufgetaucht.
Wyatt rang sich ein Lächeln ab. Er beobachtete genau, wie Raymond sich umdrehte und der Bedienung erneut ein Zeichen gab. Er hatte den Jungen vor fünfzehn Jahren zum letzten Mal gesehen, bei der Beerdigung des Vaters â Wyatts Bruder, ein Mann, der schwach und bösartig genug war, es Frau und Kind mit blauen Augen und gebrochenen Rippen büÃen zu lassen, wenn die Welt ihn ein weiteres Mal im Stich gelassen hatte. Am Ende hatte die Welt ihn den ganzen Weg bis hin zum Leichenschauhaus enttäuscht. Raymond war damals zehn Jahre alt gewesen, zart und flink wie seine Mutter und immer zu einem Lachen aufgelegt. Am Tage der Beerdigung war er mit einem blauen Auge aufgetaucht, Wyatt erinnerte sich daran, und es hatte keinen Zweifel gegeben, wie er es sich zugezogen hatte. Raymond hatte keine Gefühle gezeigt, als die Familie Erde in das offene Grab geworfen hatte, allenfalls Befriedigung. Offiziell hatte es geheiÃen, Wyatts Bruder sei kopfüber eine Treppe hinuntergestürzt und auf Betonboden aufgeschlagen. Er war stark angetrunken gewesen. Wyatt hatte die Unfallgeschichte geglaubt â bis er Raymond am Grab stehen sah. Da wurde ihm klar, dass es sich um keinen Unfall gehandelt hatte, zumindest um keinen lupenreinen.
»Zwei Kaffee, bitte«, sagte Raymond zur Kellnerin.
Wyatt hatte gewusst, dass sein Bruder nichts taugte. Er hatte versucht zu helfen, hatte der Familie Geld gegeben, seinen Bruder ernsthaft ermahnt, Frau und Sohn anständig zu behandeln. Das hatte nicht genügt und später, nach der Beerdigung, war der Kontakt zu Ray und seiner Mutter abgerissen. Es schien seinerzeit auch das Beste zu sein. Zu sehr hatte sich Raymond für die Geschichten interessiert, die über Wyatt in Umlauf gewesen waren, hatte sich etwas zusammengereimt, was nicht mehr der Wahrheit entsprochen hatte, und hatte bei der Trauerfeier dann gefragt: »Kann ich bei dir bleiben, Onkel Wyatt?«
»Was hast du so gemacht?«, fragte Wyatt jetzt.
»Dies und das«, erwiderte Raymond, dann meinte er verschmitzt: »Du willst mich doch nicht etwa ausfragen, oder?«
Wyatt sagte nichts dazu. Er versuchte, hinter Raymonds joviale Fassade zu schauen. Sollte Raymond Drogen nehmen, würde sein Körper das verraten. Die Augen des Jungen waren klar. Kein Flackern. Sollte Raymond Probleme haben wie sein Vater, würde sich das ebenfalls zeigen. Wyatt musste es wissen.
Die Kellnerin servierte den Kaffee. Für einen winzigen Moment meinte Wyatt, etwas an Raymond zu bemerken, doch bevor er es greifen konnte, war es wieder verschwunden. Er blinzelte und sah einen Raymond, der ihm lässig und äuÃerst konzentriert gegenübersaÃ.
Sie unterhielten sich annähernd eine halbe Stunde, Wyatt ständig bemüht, das Thema von sich wegzulenken, von der Vergangenheit, und Raymond in den Mittelpunkt des Gespräches zu rücken. Mit Small Talk hatte er nichts im Sinn, dazu eine Abneigung, etwas von sich preiszugeben. Lieà es sich jedoch nicht vermeiden, Gegenstand der Unterhaltung zu sein, so beschränkte er sich auf die Gegenwart. Raymond war nicht minder zurückhaltend. Um das zu kaschieren, schlug er alberne Wetten vor. »Wette einen Fünfer, dass die Frau fährt«, sagte er und wies mit dem Kopf auf ein älteres Paar, das über den Parkplatz zu seinem Wagen ging.
SchlieÃlich sagte er: »Also, Onkel Wyatt, Schluss jetzt mit dem Blabla. Was machst du hier?«
»Bin auf dem Weg nach Hause.«
»Nach Hause. Ist wohl überflüssig zu fragen, wo das ist.«
Wyatt erwiderte nichts.
Als wolle er sagenâ »Ich bin der bessere Mensch von uns beiden«, fischte Raymond einen Kugelschreiber aus der Tasche und kritzelte etwas auf die Rückseite eines Bierdeckels. »Hier sind meine Adresse und Telefonnummer. Schau mal vorbei, wenn du das nächste Mal in Melbourne bist.«
Wyatt nickte.
»Reden wir Klartext«, sagte Raymond und die Verlegenheit trieb ihm eine leichte Röte ins Gesicht. »Diese Banküberfälle auf dem Lande ... dieser Buschbandit ... das bin ich.«
Ein kleiner Schock, den Wyatt erst einmal verdauen musste. Einen Augenblick später sagte er tonlos: »Der Buschbandit.«
Er nahm an, dass es stimmte. Raymond schnitt nicht auf, sondern stellte nur klar, wer er jetzt war. Wyatt hatte keinerlei Bedürfnis, seinem Neffen ins Gewissen zu reden, ihn zu warnen, zudem war die Sache für ihn, Wyatt, mit
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