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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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er.
    »Bequeme Schuhe?« Einen Moment lang dachte ich, er wollte mir einen versteckten Hinweis geben, ein Rätsel, das mich zu Lilas wahrem Mörder führen könnte.
    »Am Samstag«, sagte er. »Es ist ein längerer Spaziergang zum Mangosteen.«
    »Ach so.«
    Auf der Fahrt die kurvige Straße von Diamond Heights hinunter dachte ich an eine Geschichte, die ich Thorpe einmal erzählt hatte, bei einem Picknick am Lone Mountain. Die Geschichte handelte von Boris, dem Deutschen Schäferhund, der seit Lilas und meiner Kindheit zu unserer Familie gehört hatte. 1986 war er schwer krank geworden. Es war schrecklich, ihn so zu sehen, und wir taten alles, um ihm seine letzten Tage angenehmer zu machen. Sein gesamtes Leben lang hatte er jeden Abend neu entschieden, wen er für die Nacht
mit seiner Anwesenheit beehren würde - unsere Eltern, Lila oder mich. Theatralisch betrat er das auserwählte Schlafzimmer, ließ sich geräuschvoll auf den Boden fallen und schnüffelte in die Luft, bevor er dann zum Bett schlenderte und sich darauf niederließ. Sosehr wir ihn auch liebten, mit den Jahren hatte jeder von uns sich zahllose Tricks ausgedacht, um Boris in eins der anderen Zimmer zu locken; er schnarchte furchtbar und nahm so viel Platz im Bett ein, dass man schlecht schlief, wenn er zusammengerollt am Fußende lag. Doch als er krank wurde, hörten wir mit diesen Spielchen auf. Uns wurde bewusst, dass wir schon bald dieses laute, feuchte Schnarchen und die schwerfällige Masse an unseren Füßen vermissen würden.
    Zwei Wochen bevor Boris starb, als allen klar war, dass es jederzeit zu Ende gehen konnte, stellten wir einen Plan auf, damit immer jemand zu Hause war. Keiner von uns konnte den Gedanken ertragen, dass Boris allein sterben müsste. Wenn meine Eltern sich nicht von der Arbeit freimachen konnten, dann durften entweder Lila oder ich von der Schule zu Hause bleiben. Eines Dienstags war ich an der Reihe. Wir hatten uns damals angewöhnt, immer neben Boris im Wohnzimmer zu bleiben, von wo er sich kaum noch wegbewegte. Den ganzen Tag lang hatte ich sein Fell gestreichelt und ihm laut vorgelesen, da klingelte es plötzlich an der Tür.
    Es war Roxanne, ein Mädchen aus der Nachbarschaft. Ich war einige Jahre lang Babysitter bei ihrer Familie gewesen, aber seit sie zehn war, ließen ihre Eltern Roxanne und ihren kleinen Bruder Robbie allein zu Hause. Als ich die Tür aufmachte, wusste ich sofort, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Sie hatte helle Panik im Blick und konnte nur keuchen: »Robbie kriegt keine Luft! Es ist niemand da!« Ich warf einen schnellen Blick auf Boris, der von seiner Decke auf dem
Wohnzimmerfußboden aus zu mir hochblickte. »Ich bin gleich wieder da«, versprach ich. Boris stieß ein mattes Geräusch aus, hob den Kopf und versuchte, sich zu bewegen. Ich sah ihm an, dass er mir hinterherlaufen wollte. »Platz«, sagte ich, dann stürmte ich aus der Tür und rannte zu Roxannes Haus. Dort fand ich den sechsjährigen Robbie, den ich noch nie besonders gemocht hatte, gekrümmt und mit blauem Gesicht auf dem Küchenboden. Ich hob ihn auf die Knie und wandte den Heimlich-Handgriff an, woraufhin ein großer Klumpen aus seinem Mund flog. Die inzwischen zitternde und weinende Roxanne erklärte: »Das war gefrorene Banane. Ich hab ihm gesagt, er soll das nicht essen!« Ich vergewisserte mich, dass es Robbie gut ging, trug Roxanne auf, ihre Mutter anzurufen, und rannte nach Hause.
    Als ich ankam, lag Boris im Flur, vollkommen regungslos, die Augen offen, aber leer. Er atmete nicht. Er hatte keinen Puls. Während ich Erste Hilfe bei dem nervigen Kind zwei Türen weiter leistete, war Boris bei dem Versuch, zu mir zu kommen, gestorben. Obwohl meine Eltern mich für Robbies Rettung lobten, vergab ich mir selbst nie, nicht für Boris da gewesen zu sein, ihn allein sterben lassen zu haben.
    Jahre später, als ich Thorpe die Geschichte bei dem Picknick erzählte, hatte er gespannt zugehört. Danach schwieg er eine Weile. Ich erwartete, dass er eine Bemerkung darüber machen würde, was für eine traurige Geschichte das war. Zu meinem Entsetzen sagte er aber schließlich: »Wow. Was für ein perfekter Schluss.«
    Im zweiten Stock von Sloan Hall in Stanford gibt es ein Büro , hatte Thorpe im letzten Kapitel von Mord in der Bucht geschrieben. In dem Büro sitzt ein Mann - groß, imposant, der Typ Mann, dessen bloße Anwesenheit die Chemie in einem Raum verändert. Seine Konzentration ist so eisern wie
sein Ehrgeiz.

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