Niemand ist eine Insel (German Edition)
nicht wahr?
»Hund«, sagte sie. »Dreckiger Hund.« Sie sprach langsam. Suchte nach jedem Wort, wie es schien. Und dauernd rannen Tränen über das Gesicht, das aussah wie eine vier Wochen alte Tischdecke in der miesesten Pizzeria von Neapel.
»Was ist mit ihr?« fragte ich den Arzt.
Der sagte, ohne aufzusehen: »Neuroleptika. Schwerste Mittel. Sie müßte eigentlich längst schlafen. Ich verstehe das nicht.«
Weil du nicht weißt, was Sylvia an Alkoholmengen gewöhnt ist, dachte ich. Das Licht in diesem Zimmer kam von einer starken Wandlampe. Ich sah, daß Sylvias Strümpfe zum Teil heruntergerutscht und zerrissen waren. Naß auch. Naß wie die Schuhe. Sie hatte Seidenschuhe angezogen – wahrscheinlich hatte sie in der Eile nichts anderes gefunden –, und die waren so naß und verdreckt vom Regen, daß sich die Sohlen lösten. Ein Strumpf war zerrissen, am Fuß, ich sah es durch die gelöste Sohle. Weiße Zehe. Nein, auch die Zehe dreckig. Ein Nachmittagskleid von Dior – schwarze Seide. Gleichfalls verdreckt, verrutscht und zerrissen. Hélènes Schwesternumhang lag über der Bettlehne, unten. Völlig durchweicht. Da hatte sich eine Pfütze gebildet. Hélènes Haube, dieses komplizierte weiße Ding, war nun ein nasser Lappen und lag auf dem Umhang. Und neben Sylvia, auf der Decke, erblickte ich meine Brille mit den dunklen Gläsern. Also doch geklaut! Unter der Brille noch ein Kopftuch; Sylvia hatte es wohl am Kinn zugeknüpft, um ihr Gesicht zum Teil zu verbergen. Ein Tuch von ›Hermes‹. Das mußte man einem aber sagen, wenn man das Tuch jetzt sah, zerdrückt, schmutzig, naß. Schönes Tuch war das mal gewesen, ich erinnerte mich noch daran. So gekleidet war Sylvia von der Rue Cavé bis hierher gelaufen, durch die Nacht und den Regen.
»Schwein«, sagte sie zu mir.
Na, laß man.
»Lügner. Schwein und Lügner. Babs geht es besser, ja? Habe gewußt, daß du lügst. Darum bin ich hergekommen.«
Was sagt man da? Nichts sagt man da. Ich sagte nichts.
»Babs. Meine arme Babs. Und ich bin schuld. Gott straft mich.«
Ich sah Bracken an, der nickte und ging aus dem Zimmer.
»Aber warum straft er Babs? Meine Babs! Alles, was ich habe auf der Welt. Warum? Warum muß sie jetzt so leiden? Sie hat mich nicht erkannt. Hat geschrien. Nach mir getreten. Ich will sterben«, sagte Sylvia mit dieser langsamen, heiseren Stimme, die genauso verquollen klang, wie ihr Gesicht aussah. »Gleich sterben. Warum geben die mir nichts? Kann nicht mehr leben, wenn Babs so krank ist. Babs wird auch sterben, bald.«
»Nein«, sagte ich.
»Doch«, sagte sie. »Ich weiß es. Und du weißt es auch, Schwein, verlogenes.«
»Ich wollte dir doch nur Kummer ersparen«, sagte ich.
»Kummer ersparen«, sagte Sylvia. »Du Scheißkerl! So ersparst du mir Kummer, ja? Du wirst auch sterben, bald. Hoffentlich dauert es lange und tut weh. Sehr weh.«
»Hexlein …«
»Nenn mich nie mehr Hexlein!« schrie sie plötzlich und spuckte nach mir. Kraftlos. Die Spucke traf mich nicht. Sie traf den Arzt. Der nahm ein Taschentuch.
»Ich bitte um Verzeihung, Monsieur«, sagte Sylvia, Sylvia mit dem verquollenen, verfärbten Gesicht und den noch deutlich sichtbaren Schnitten dort, wo die Nähte gewesen waren, Sylvia, das wunderbare Haar hochgekämmt und zu einem Knäuel zusammengesteckt, glanzlos, fettig. Sylvia mit roten, entzündeten Augen. Die heulende Sylvia. Mit dem Kugelverband war sie eine Schönheit gewesen im Vergleich dazu, wie sie nun aussah. Sie tat mir wirklich und aufrichtig leid, mein Herr Richter. Das zweite Mal, als sie spuckte, traf sie mich auf die Stirn. Ich wischte es mit einem Handrücken weg.
Die Tür ging auf, Ruth kam mit Bracken herein. Sylvias Gesicht verzerrte sich vor Zorn, als sie Ruth sah.
»Sie!« , sagte Sylvia. »Gehen Sie bloß weg!«
»Sofort, Mrs. Moran«, sagte Ruth und trat dicht neben sie.
»Ich hasse Sie«, sagte Sylvia.
»Ja, Mrs. Moran«, sagte Ruth. Ich sah, daß Dr. Sigrand ins Zimmer kam. Wir sahen ihn an – Sylvia nicht. Die starrte Ruth an.
»Sie haben mich von meinem Kind weggerissen«, sagte Sylvia.
»Ja, Mrs. Moran«, sagte Ruth.
»Sie haben kein Herz.«
»Nein, Mrs. Moran«, sagte Ruth.
»Sie sind keine Frau«, sagte Sylvia.
»Nein, Mrs. Moran«, sagte Ruth.
»Sie sind überhaupt kein Mensch, wissen Sie das?« fragte Sylvia.
»Das weiß ich, Mrs. Moran«, sagte Ruth. Und dann plötzlich wirkte endlich – endlich! – die Injektion. Sylvias Kopf rollte seitlich, der
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