Niemand ist eine Insel (German Edition)
Schlüsse ziehen zu können, die Zukunft tastend vorauszuerforschen. Er bemerkte natürlich sofort, was ich da tat. Indessen, er unterstützte mein Bemühen.
»Nun«, sagte Dr. Oranow also gleich damals, drei Tage nach meiner Verhaftung, »nun, der Gang der Verhandlung ist etwa dieser: Zunächst Aufruf zur Sache, in dem Fall, der Sie interessiert, zum Beispiel: ›Das Schwurgericht eröffnet die Sitzung in der Strafsache gegen Sylvia Moran!‹ Der Vorsitzende stellt fest, ob Angeklagte und Verteidiger anwesend sind, desgleichen alle Asservate und die geladenen Zeugen und Sachverständigen. Bei längerer Verhandlungsdauer – wie es hier zweifellos der Fall sein wird – können Zeugen und Sachverständige auch zu unterschiedlichen Tagen geladen werden. Die Leitung der Verhandlung, die Vernehmung der Angeklagten, der Zeugen und der Sachverständigen erfolgt durch den Vorsitzenden. Die beisitzenden Richter haben Fragerecht, ebenso Staatsanwalt, Angeklagte und Verteidiger. Es kann ein Kreuzverhör durchgeführt werden. In diesem Fall werden die Zeugen durch denjenigen vernommen, der sie benannt hat, also entweder Verteidiger oder Staatsanwalt, wobei jeweils wechselseitig das Fragerecht besteht mit der Maßgabe, daß auch der Vorsitzende und die beisitzenden Richter weitere Fragen zur Aufklärung stellen können.« Er spricht stets druckreif, mit äußerster Präzision, mein Verteidiger Dr. Oranow. »Sie«, sagte er milde, »das ist klar, werden ein Zeuge des Herrn Staatsanwalts sein.«
Fein, dachte ich, und bevor ich fragen konnte, sagte er es mir auch schon: »Alle Zeugen werden aufgerufen und vom Vorsitzenden über ihre Pflichten belehrt, insbesondere darüber, daß sie die reine Wahrheit zu sagen haben und nichts verschweigen dürfen. Die Belehrung erfolgt ferner hinsichtlich Meineid oder falscher Aussage, ohne daß der Vorsitzende hier im einzelnen die Höhe der Strafen angibt. Er bemerkt lediglich, daß diese strafbaren Handlungen mit erheblichen Freiheitsstrafen geahndet werden.«
»Wie erheblich sind diese Freiheitsstrafen, Herr Doktor?«
Er sah mich an – jetzt beinahe belustigt, schien es mir – und sagte: »Meineid – das ist vorsätzlich falscher Schwur. Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr, bei mildernden Umständen sechs Monate bis fünf Jahre.«
»Bis fünf Jahre bei mildernden Umständen?« fragte ich verblüfft.
»Exakt, Herr Kaven.« (Jetzt war ich allgemein wieder Philip Kaven, den ›Schutzpaß‹ auf den Namen Philip Norton hatten sie sofort zu den Akten genommen.) »Falsche Aussage«, fuhr mein Anwalt freundlich fort, »aber uneidlich: Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren, in schweren Fällen nicht unter einem Jahr. Schließlich noch die sogenannte ›fahrlässige Falschaussage‹ – Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr –, bei rechtzeitiger Berichtigung Straffreiheit.«
In diesen Punkt – man wird es verstehen – verbiß ich mich nun.
»Wie ist das überhaupt mit Zeugenaussagen, Herr Doktor? Wenn ich Zeuge bin – und ich werde gewiß einer sein in der Sache Sylvia Moran, vergessen wir für einen Moment meine Sache –, muß ich dann aussagen?«
»Herr Kaven …«, sagte er und sah mich von unten her an.
»Ja?« Ich blinzelte unschuldig. »Habe ich etwas Ungesetzliches gefragt? Ich möchte einfach informiert sein, das ist alles.«
»Gewiß, Herr Kaven. Sie möchten einfach informiert sein. Das ist alles. Also bitte. Für eine Aussageverweigerung gibt es mehrere Rechtsgründe. Erstens: Jeder Zeuge kann die Auskunft auf solche Fragen verweigern, deren Beantwortung ihn selbst oder einen nahen Angehörigen in die Gefahr bringen würde, wegen einer Straftat oder wegen einer Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden. Die Zeugen sind über dieses Recht zu belehren.«
Wenn die Zeugen es nicht alle schon sind, dachte ich. Denn schließlich müssen Gintzburger & Co. sich ja einen Plan zurechtlegen, nicht wahr? Sie sind – trotz Joes salbungsvollen Geredes von der ›glücklichen Familie‹ – keine nahen Verwandten von Sylvia. Aber sie bringen sich selbst in die Gefahr, wegen Straftaten verfolgt zu werden, wenn sie alle Fragen beantworten. Sie werden also vermutlich nicht lügen (damit kämen sie ja wiederum in die gefährliche Nähe eines Meineids), sie werden die Antwort auf viele Fragen – auf sehr viele! – verweigern. Ich auch. Indessen …
»Eine solche Verweigerung der Beantwortung von Fragen«, sagte ich, »kann die sich nicht negativ für die
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