Niemand ist ohne Schuld - Dark village ; 3
körperlich spüren konnte. Es reichte, dass sie ein Gesicht, einen Ausdruck von Verärgerung oder Herablassung oder sonst irgendwas Negatives sah, damit es sie wie eine Welle überrollte. In ihr tönte es: Es ist meinetwegen, es ist meinetwegen. Sie können mich nicht leiden, sie finden mich nuttig, niemand nimmt mich ernst . Meistens schaffte sie es, diese Gedanken mit einem Achselzucken abzutun, ohne auch nur einen Kratzer im Lack, nicht die Spur einer Beule in der Karosserie. Aber heute ging das nicht so einfach, heute war es total unmöglich.
Denn Benedicte langweilte sich nicht. Sie hatte ihre Klassenkameraden oder die anderen Leute auf dem Schulhof nicht über. Darum ging es nicht. Sie hätte alles dafür gegeben, ihr normales und âlangweiligesâ Leben zurückzukriegen.
Benedicte hatte Angst. Sie hatte eine Todesangst. Und mit jeder Minute wurde sie schlimmer â nein, sogar mit jeder Sekunde! Der Abend rückte näher und näher und damit auch die Verabredung mit Wolfman um sieben. Er hatte sie über MSN kontaktiert. Keine Mails oder SMS mehr , hatte er geschrieben. Und sie wusste genau warum: Er fürchtete die Polizei. Vielleicht wollte er sie auch umbringen. Dann war es natürlich wichtig, dass es keine Verbindung zwischen ihnen gab.
Trotzdem hatte sie sich auf ein Date mit ihm eingelassen. Er würde sie an derselben Stelle wie beim letzten Mal abholen und sie würden an denselben Ort fahren wie immer.
Und heute Abend , dachte Benedicte, heute Abend mache ich alles wieder gut. Heute Abend werde ich jedes Wort aufnehmen, das er von sich gibt. Ich werde ihm vor laufendem Mikrofon ein Geständnis entlocken .
Sie hatte ihren MP3-Player vorher noch nie für Tonaufnahmen benutzt, aber heute hatte sie es ein paar Mal ausprobiert und festgestellt, dass es ganz einfach ging. Sie brauchte nur dafür zu sorgen, dass der Akku voll war, und konnte die Aufnahme starten. Dann konnte das Gerät in der Tasche laufen, während sie mit Wolfman zusammen war.
Aber egal wie gut sie alles geplant hatte â sie wusste genau, dass alles Mögliche schiefgehen konnte. Wenn sie nun bei ihm einstieg und er fuhr mit ihr an einen Ort, wo sie noch nie gewesen waren â irgendwo in die Pampa â, um sie dort umzubringen? Ihm konnten tausend Sachen einfallen, und die einzige Waffe, die sie hatte, war ein Creative MP3-Player ⦠Super.
Sie trieb durch den Schultag â versteckte sich in den Pausen hinter ihrer Sonnenbrille und während des Unterrichts hinter ihren Haaren. Sie redete kaum, und als es endlich zum letzten Mal klingelte, bummelte sie so lange herum, bis alle anderen längst weg waren. Es wäre auch nicht schlimm gewesen, mit Vilde oder Nora oder beiden nach Hause zu gehen, aber es war besser, allein zu sein. Sie brauchte Ruhe.
Am liebsten hätte sie sich in ihrem Bett verkrochen â sicher und warm â und einen langen und glücklichen Traum geträumt.
Aber das ging natürlich nicht. Denn heute Abend musste es passieren.
Später wusste sie nur noch, dass sie nach Hause gekommen war und zusammen mit ihrer Mutter Mittag gegessen hatte. Ihr Vater war wie immer unterwegs gewesen. Dann war sie in ihr Zimmer hoch gegangen und hatte zwei Mal telefoniert.
Es war wie auf einer langen Autofahrt, wenn man eine Ewigkeit aus dem Fenster schaute, sich aber hinterher nicht mehr erinnern konnte, was man gesehen hatte. Genau so ging es ihr jetzt, und sie wachte erst aus diesem Dämmerzustand auf, als sie am Abend an einer ruhigen StraÃe auÃerhalb von Dypdal stand und auf Wolfman wartete. Er war pünktlich.
ScheiÃe! Sie fing an zu zittern, als das Auto merkwürdig leise auf sie zurollte. Die Windschutzscheibe war dunkel getönt. Sie hatte das Gefühl, ein Gespenst, ein Monster mit weit geöffnetem schwarzem Schlund käme auf sie zu.
Sie angelte ihren MP3-Player aus der Jackentasche mit ReiÃverschluss und vergewisserte sich zum hundertsten Mal, dass das Ding an seinem Platz und eingeschaltet war.
Schon hielt der Wagen neben ihr und Doktor Wolff lehnte sich über den Beifahrersitz und drückte die Tür auf.
âMach voran!â
Benedicte blieb auf dem Bürgersteig stehen, sie konnte sich nicht bewegen. Ihr Körper war schwer wie Blei. In ihrem Kopf schrillten die Alarmglocken. Wenn sie jetzt einstieg, könnte alles Mögliche passieren! Sie würde die Kontrolle verlieren, er könnte mit ihr
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