Niemand kennt mich so wie du
Medikamenten vollgepumpt war, und zwei Neuzugängen allein. Die lernte Eve aber gar nicht erst näher kennen, denn endlich wurde ein Einzelzimmer frei, und sie wurde verlegt.
«Auf Wiedersehen, Beth!», sagte Eve, als eine Schwester sie aus dem Zimmer schob.
«Werden Sie entlassen, Liebes?», wollte Beth wissen.
«Nein. Ich bekomme ein Einzelzimmer.»
«Ach, gut, es wäre auch eine Zumutung gewesen, Sie in diesem Zustand zu entlassen, Sie sehen immer noch verheerend aus!»
An ihrem sechsten Tag im Krankenhaus begann Eves Physiotherapie für die Schulter, und sie würde über den gesamten Zeitraum ihres neunwöchigen Aufenthalts fortgeführt werden. Es war die reinste Qual. Jeden Tag wurde sie mit einfachsten Übungen zur Dehnung und Stärkung der Muskulatur vierzig Minuten lang gefoltert. Eve fing an, die Stunden und Minuten zu zählen, bis ihre Therapeutin Mica das Zimmer betrat. Sie atmete jedes Mal tief durch, bevor sie begannen. Die Schmerzen waren unbeschreiblich, aber Eve stand die Behandlungen mit viel Geduld und gutem Zureden durch, oft weinend. Mica war ebenso nett wie streng und duldete keine Widerrede.
«Ich weiß, dass es weh tut, aber wenn Sie wollen, dass Ihre Schulter wieder komplett einsatzfähig wird, müssen Sie da durch.»
«Will ich nicht, es ist okay, ein gesunder Arm reicht mir völlig.»
«Seien Sie nicht albern – und jetzt dagegendrücken!»
Nach der Physiotherapie bekam Eve zwei Schmerztabletten, der Schrecken ließ nach, und ihr Tag konnte beginnen. Sie las Bücher, sah am helllichten Tag fern, schlief, wenn sie konnte, las noch mehr Bücher und sah noch mehr fern.
Diese Monotonie wurde nur durch Besuch unterbrochen. Gina kam fast jeden Tag vorbei, wenn die Kinder in der Schule waren. Sie brachte kleine Leckereien mit: Käsekuchen, Bananenbrot und bunte Cupcakes. Eve aß Käsekuchen, Bananenbrot und bunte Cupcakes auch dann nicht, wenn sie nicht ans Bett gefesselt war und sich wie ein gestrandeter Pottwal fühlte. Die Krankenschwestern liebten die Mitbringsel und konnten Ginas Besuche kaum erwarten. Sie erzählte von den Kindern, berichtete allgemeine Neuigkeiten, und ab und zu lenkte sie das Gespräch auf Paul und die bevorstehende Hochzeit. Gar hatte die Nachricht von Pauls Bisexualität tief getroffen. Er begriff nicht, weshalb sein Freund ihn so hintergangen und sich selbst und andere so lange belogen hatte. Gar fühlte sich im Stich gelassen. Er schaute Paul an und sah einen Fremden. All die Jahre! Er dachte an die Dinge, die er Paul von sich und Gina erzählt hatte, Dinge, die hinter der Schlafzimmertür passiert waren. Er hätte Paul niemals davon erzählt, wenn er nicht davon überzeugt gewesen wäre, dass Paul vom anderen Ufer war. Oh Gott, vielleicht hat er dabei das Bild von ihr und mir und sich vor sich gesehen. Ach, verdammte Scheiße … Gina machte sich Sorgen, weil Gar Paul aus dem Weg ging und bis auf ein paar Arbeitskollegen, mit denen er im Sommer einmal in der Woche Rugby spielte, im Grunde keine anderen Freunde hatte.
«Er kommt darüber weg», hatte Eve an einem besonders schönen Tag gesagt, als die Sonne durchs Fenster schien und sie schwitzte wie ein Schwein.
Eves Kopfschmerzen wurden immer schlimmer. Wenn es darum geht, einem Mädchen Kopfschmerzen zu bereiten, gibt es auf der Welt keine bessere Methode, als es in ein überhitztes Krankenzimmer zu sperren.
Nachdem sie mit ihrem Mann zu Mittag gegessen hatte, kam Lily ins Zimmer gestürmt, und Gina wäre beinahe hingefallen, so schnell sprang sie auf, um die alte Freundin zu umarmen. Lily freute sich, Gina zu sehen, doch gleichzeitig fühlte sie sich ein bisschen unwohl, weil etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen im Zimmer hing und Gina nicht so geschickt darin war, es zu umgehen, wie Eve und Lily.
«Wohin zum Teufel seid ihr damals eigentlich verschwunden?», fragte Gina.
«Ach, du weißt schon.»
«Nein, weiß ich nicht.»
«Nach Cork, und dann hierher.»
«Wieso seid ihr nie wieder nach Hause zurückgekehrt?»
«Ach, wir sind eben nach Dalkey gezogen.»
«Ja, sehr schick, aber trotzdem gleich um die Ecke. Wieso haben wir euch nie mehr zu Gesicht bekommen?»
«Gleich um die Ecke ist dasselbe wie Amerika, wenn man zwei kleine Kinder hat», sprang Eve ihrer Freundin zur Seite.
Gina nickte lachend. «Klar. Ich habe selbst zwei, und die sind jünger als eure. Du musst Scott ja direkt nach der Schule bekommen haben.»
Eve hatte Gina alles über Lilys Kinder erzählt, denn Lily sprach viel von
Weitere Kostenlose Bücher