Niemand kennt mich so wie du
war kein Partygirl. Sie besaß eine hohe Arbeitsmoral und genügend Hingabe und Entschlossenheit, um erfolgreich zu sein. Um ihr Ziel zu erreichen, machte sie unzählige Überstunden, und da sie nicht gewillt war, Drogen zu nehmen, um tagsüber arbeiten und die Nächte durchfeiern zu können, besaß sie kaum nennenswerte Erinnerungen an das aufregende Partyleben, das man bei einer jungen Frau in Paris erwarten würde. Doch das spielte keine Rolle, weil sie ihre Arbeit liebte, und als sie genug Erfahrungen gesammelt hatte, ging sie nach Amerika, entwickelte dort ihre eigene Schmucklinie und baute damit ein internationales Millionenunternehmen auf. Amerika und ihre eigene Firma ließen ihr kaum Raum für ein Privatleben. Trotzdem war das Leben gut, und sie war dankbar und zufrieden – jedenfalls bis ihr Vater starb. Die beiden kostbaren Monate in Irland hatten alles verändert. Sie hatte ein paar Gänge zurückgeschaltet und wieder Kontakt zu ihrem Vater, ihrem Bruder, ihren alten Freunden und ihrer Heimat geknüpft.
Nach Jahren der Funkstille hatte Eve über Facebook alte Freunde angesprochen. Gar Lynch, der Junge, mit dem sie als Teenager zusammen gewesen war, bot ihr als Erster die Freundschaft an, und aus dieser Freundschaft ergab sich ein paar Wochen später die Verbindung zu ihrem gemeinsamen Kumpel Paul Doyle. Gar hatte Gina McCarthy geheiratet. Gina war zwei Jahre älter als Eve, doch sie waren in unmittelbarer Nachbarschaft aufgewachsen und als Kinder immer Freundinnen gewesen, bis Gina mit zwölf auf einmal feststellte, dass zwei Jahre Altersunterschied die Welt bedeuteten und sie Eve und Lily die Freundschaft kündigte, indem sie ihnen die Tür vor der Nase zuknallte, als sie die Frechheit besaßen, bei ihr zu klingeln und zu fragen, ob sie Lust hätte, zum Spielen rauszukommen. Trotz dieser Abfuhr hatte Eve Gina immer gemocht. Sie waren in jenem Sommer 1990 wieder in Kontakt gekommen, kurz bevor Eve Irland verließ, und sie freute sich darüber, dass Gar bei Gina gelandet war. Dank Facebook erfuhr sie, dass die beiden glücklich waren, zwei Kinder hatten, zwei Hunde, eine Katze und ein Boot. Sie waren immer in der Gegend geblieben, weil Gar keinen Grund gewusst hätte wegzugehen.
«Meerluft, gute Schulen, tolle Restaurants, der beste Pub Irlands, und die DART-Bahnlinie die Küste runter führt auch direkt hier vorbei. Was will man mehr?», schrieb er in einer persönlichen Nachricht, aber Gar war schon immer mit seinem Zuhause zufrieden gewesen, und, um ehrlich zu sein, nicht völlig zu Unrecht. Eves alte Heimatstadt kam dem perfekten Fleckchen Erde näher als jeder andere Ort, an dem sie bis jetzt gewesen war.
Sie erfuhr, dass Paul nach dem Studium nach England gezogen war. Als die Wirtschaft in Irland boomte, kehrte er jedoch zurück und blieb trotz des gespannten Verhältnisses zu seinen Eltern ebenfalls. Gar schrieb, Paul habe sich zu ihrer aller Überraschung in seinem zweiten Jahr am Trinity College geoutet. Er schien einfach nicht der Typ dafür zu sein. Paul war ein großartiger Rugbyspieler, knallhart und ständig von Mädchen umringt. Eve war aufgefallen, dass er nie wirklich mit einem Mädchen aus ihrem Ort zusammen gewesen war. Seine Freundinnen wohnten immer eine Busfahrt weit entfernt, und er blieb nie länger als fünf Minuten mit der Gleichen zusammen, aber irgendeine gab es immer. Für die Jungs war er eine Legende. Für Eve war Paul immer ein übler Schwerenöter gewesen, wenn auch ein netter, aber Mädchen, die ihren guten Ruf oder gar die Jungfräulichkeit bewahren wollten, hielten Paul Doyle lieber auf Abstand. Sie war schon in London, als er sich outete, die Verbindung zu ihrer alten Clique löste sich bereits, und so hatte sie das Drama damals verpasst. Sie erfuhr erst später durch Gar und dann durch Gina, dass es jede Menge Aufruhr gegeben hatte. Pauls Vater ging drei Tage und Nächte auf Sauftour, ehe er mit einem Loch im Schädel und ohne Erinnerung in der Notaufnahme wieder zu sich kam. Seine Mutter drohte, ein ganzes Päckchen Schlaftabletten zu schlucken, wovon sie nur der örtliche Priester mit dem Versprechen abhalten konnte, für ihren Sohn zu beten, damit ihm die ewige Verdammnis erspart bliebe. Der Priester erwies sich später als pädophil, eine Nachricht, die Mrs. Doyle nicht so schlecht aufnahm wie die Homosexualität ihres Sohnes. Paul lebte jahrelang mit einem Mann namens Paddy zusammen, und das Ende der Beziehung bekamen alle über Pauls neuen Facebook-Status
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