Niemand kennt mich so wie du
Das war schon immer so. Deine Mutter ist praktisch in diesem Haus aufgewachsen. Sie wurde hier geliebt.»
«Sie wurde zu Hause geliebt.»
«Nein, das stimmt nicht. Weißt du, Daisy, das kannst du jetzt noch gar nicht verstehen, weil du ein Kind bist und Kinder grundsätzlich egoistische Mistkäfer sind, die glauben, die ganze Welt würde sich nur um sie drehen. Nur weil du zu Hause glücklich warst, muss sie es auch gewesen sein, denkst du, stimmt’s?»
Daisy blinzelte, sagte aber nichts.
Eve nickte bestätigend. «Neunzehn Jahre lang hat deine Mutter deinen Vater, Scott und dich an erste Stelle gesetzt. Sie hat gearbeitet, das Haus geputzt, Kuchen gebacken, Geschichten erzählt, euch Tag und Nacht bekocht. Sie hatte keine Freunde, keine Freizeit und kein Leben. Sie ging ständig auf dem Zahnfleisch, war die ganze Zeit damit beschäftigt, euch vor dem Frust eures Vaters zu beschützen, vor seiner Paranoia und seinen Launen. Sie war einsam und unglücklich, und sie konnte nicht mehr.»
«So wie Sie das sagen, klingt es, als wäre mein Vater der Teufel persönlich.»
«Dein Vater ist ein Arschloch, Daisy, aber das würde deine Mutter nie sagen, weil sie dir nicht weh tun will.»
«Aber Ihnen macht es nichts aus, mir weh zu tun, oder wie?»
«Ich bin eine Fremde für dich, Daisy, und ich wette, was ich gerade über ihn gesagt habe, ist gar nichts im Vergleich zu dem, was er euch über eure Mutter erzählt hat. Macht es ihm denn was aus, dir weh zu tun? Denk mal darüber nach.» Eve stand mühsam auf und stützte sich auf ihre Krücken.
«Er ist mein Vater.»
«Und sie ist deine Mutter, und wenn du ihn und seine Unzulänglichkeiten verteidigst, dann wäre es das Mindeste, bei deiner Mutter denselben Maßstab anzulegen.»
«Sie glauben wohl, Sie wüssten alles!»
«Nein», antwortete Eve. «Ich weiß einfach nur mehr als du. Sag deiner Mutter, ich warte im Auto.»
Sie humpelte hinaus, und Daisy starrte die Treppe hinauf nach oben, zu ihrer Mutter und zu Tess.
Lily fuhr Eve zurück in ihre Wohnung und lud Daisy und Tess zu Eddie Rocket’s zum Essen ein. Lily setzte sich den Mädchen gegenüber in eine Nische, und sie bestellten.
«Du hast noch gar nicht gesagt, wie dir das Haus gefällt», sagte Lily.
«Es ist schön», antwortete Daisy.
«Und dein Zimmer? Gefällt es dir?»
«Es ist auch schön.»
«Ich find’s toll!», sagte Tess.
«Und was ist mit Scott?», wollte Daisy wissen.
«Er kriegt das linke Zimmer.»
«Weiß er das mit dem Haus?»
«Ich habe es ihm noch nicht gezeigt.»
«So läuft das also? Wir verlassen einfach alle meinen Dad?», fragte Daisy, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Lily wollte ihre Hand nehmen, doch Daisy zog sie weg. «Du wirst ihn trotzdem weiter sehen. Du kannst ihn jederzeit besuchen und auch übers Wochenende bleiben, wenn du willst. Er ist immer noch dein Dad.»
«Und zieht er auch mit ein?»
«Wer?»
«Der Typ mit dem bescheuerten Namen.»
«Nein.»
«Aber irgendwann schon. Es ist ja schließlich sein Haus.»
«Nein. Er lebt nicht in Irland. Er geht bald wieder weg.»
«Wann?»
«Bald.»
«Liebst du ihn?»
Lily wurde rot und fing an zu stammeln. Die Frage erwischte sie auf dem falschen Fuß. Natürlich liebte sie Clooney, aber sie würden kein Paar werden, sosehr sie sich das auch wünschte. Ihnen war nie mehr bestimmt gewesen als das, was sie im Moment hatten. Ach Daisy, er ist vor allen Dingen meine Familie gewesen. Daisy stocherte auf ihrem Teller herum. Sie war wie ihre Mutter – wenn sie sich gestresst oder traurig fühlte, war ihre Kehle wie zugeschnürt. Sie hatte in dem Maße abgenommen, wie Lily zugenommen hatte. Clooney bestand darauf, Lily aufzupäppeln, und tatsächlich legte sie langsam ein wenig zu. Noch immer war sie zerbrechlich dünn, doch wenigstens standen inzwischen die Knochen nicht mehr hervor. Und wenn du dann bei mir zu Hause bist, mache ich es mit dir genauso, Daisy.
Tess war sichtlich froh darüber, dass sich für sie selbst im Grunde nichts änderte. Daisy würde nach wie vor dieselbe Schule besuchen wie sie, und Lily war endlich zurück. Sie hatte ihre Wärme und Freundlichkeit vermisst. Tess besaß genug Abstand, um zu erkennen, was Daisy nicht sehen konnte oder wollte. Du hast so ein Glück, Daisy. Manchmal schließe ich die Augen und wünsche mir, ich wäre du.
Lily setzte Tess zu Hause ab. Ihre Mutter tauchte wie aus dem Nichts auf und warf sich förmlich vor den Wagen, um die Neuigkeiten aus erster Hand
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