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Niemandsland

Niemandsland

Titel: Niemandsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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Wasseroberfläche bewegte sich plötzlich ein kleiner weißer Punkt mit einiger Geschwindigkeit. Auf den ersten Blick glich er einer tauchenden Seemöwe. Die größer werdende Bugwelle um den Gegenstand hätte einen Betrachter jedoch schnell über seinen Irrtum aufgeklärt. Es war ein Periskop, und kurze Zeit später ragten vier weitere Instrumente verschiedenen Aussehens hinter dem Periskop in die Höhe.
    Es war nur wenigen Menschen vergönnt, die anschließende schwindelerregende Verwandlung zu sehen, als das Monstrum aus der Tiefe kam, ein schier unbegreiflich großes U-Boot. Die schwarze, walähnliche Konstruktion maß von der breiten stumpfen Schnauze bis zu der hohen Ruderflosse am Heck etwas über hundertsiebzig Meter.
    Bei dem klaren Wetter und in der reinen Eismeerluft war die Sicht außerordentlich gut, und einer der Computer der amerikanischen Spionagesatelliten nahm den neuen Gegenstand sofort ins Visier und begann, Daten durchs Weltall zu senden; die Länge des Gegenstands war einer der Hauptgründe dafür, daß er sofort identifiziert werden konnte. Die sechs sowjetischen U-Boote der Taifun-Klasse waren bis auf einen halben Meter gleich lang, und den wohlbekannten Daten zufolge war dies PLARB, Powodnaja Atomnaja Raketnaja Ballestiitscheskaja MINSKIJ KOMSOMOLETS, ein U-Boot, das nach acht Wochen auf See zu seiner Basis zurückkehrte.
    Die Kameralinsen des Satelliten richteten sich auf das Vorderdeck und kontrollierten, daß sämtliche vierundzwanzig länglichen Luken intakt waren. Die »Minskij Komsomolets« kehrte mit derselben tödlichen Last zurück, mit der sie im Sommer ausgelaufen war.
    Unter mindestens zwanzig der vierundzwanzig Luken verbargen sich je eine SS-N-20, in der NATO-Sprache »Der Stör«
    – fünfzehn Meter hohe Raketen mit einem Durchmesser von 2,2 Metern. Jede der dreistufigen Raketen war mit mindestens sechs Sprengköpfen versehen, von denen jeder sich ein eigenes Ziel sucht. Die Sprengkraft jedes einzelnen Sprengkopfes wurde von westlichen Nachrichtendiensten auf ungefähr 150 Kilotonnen geschätzt, einfach ausgedrückt zwischen sieben und acht Hiroshima-Bomben.
    An Bord der »Minskij Komsomolets« befanden sich folglich mehr Tod und Vernichtung als in allen vorhergehenden Kriegen der Menschheit zusammen. Die gesamte Vernichtungskraft entsprach etwa l 500 bis l 600 Hiroshima-Bomben.
    Gerade jetzt, als die »Minskij Komsomolets« aus der Tiefe aufgestiegen war und sich auf fast demonstrative Weise zeigte, war sie verwundbar wie ein Wal in seichtem Wasser. Doch draußen in den großen Tiefen des Atlantik sah es anders aus. Sie konnte mehr als 450 Meter tief tauchen, und ihr gewaltiges Gewicht, 25 000 Tonnen, machte sich überdies auf einem ganz besonderen Einsatzgebiet bemerkbar. Die sechs Taifun-U- Boote operierten normalerweise unter dem dichten Packeis des Nördlichen Eismeers, unerreichbar für sämtliche Waffen und Überwachungssatelliten. Doch plötzlich konnten sich diese 25 000 Tonnen wie ein urzeitliches Monster aus dem Eis emporpressen und innerhalb von fünfzehn Sekunden abschußbereit sein. Die zwanzig oder vierundzwanzig SS-N-20 hatten eine Reichweite von mindestens 8 500 Kilometern und konnten folglich von jedem beliebigen Punkt unter dem polaren Packeis jeden beliebigen Punkt auf dem nordamerikanischen Kontinent erreichen.
    Nur wenige Dinge, wenn überhaupt etwas bei den sowjetischen Streitkräften, hatten die westlichen Nachrichtendienste so sehr in Atem gehalten wie diese sechs Ungeheuer, seit sie sich Anfang des Jahres 1983 zum ersten Mal zeigten. Die festen Abschußrampen der Sowjetunion waren schon seit langem unter relativ guter Kontrolle und wurden buchstäblich jede Sekunde überwacht. Raketen, die von diesen bekannten Positionen aus abgeschossen würden, gaben eine ausreichende Vorwarnzeit, um den Einsatz von Gegenmaßnahmen zu erlauben. Zumindest in einer normalen Alarmsituation. Doch bei den sechs Taifun-U-Booten war es anders. Sie konnten sich an jeder Stelle unter dem polaren Packeis befinden, was zu gewaltigen Überwachungsproblemen führte. Unten in der Meerestiefe waren sie vorsichtig und wachsam. Es war unerhört schwierig, sie zu verfolgen, ohne entdeckt zu werden. Eine Taktik der Amerikaner bestand nämlich darin, Jagd-U- Boote hinter den sowjetischen Ungeheuern herfahren zu lassen, die wie Haie hinter ihrer Beute herschwammen, um die Taifun-U-Boote jederzeit mit Torpedos versenken zu können. Allerdings war nicht bekannt, ob die Verfolgten davon

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