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Niemandsland

Niemandsland

Titel: Niemandsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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hatte ich letzten Sommer nicht ausreichend beschützt, und er wäre fast
erschossen worden. Als Folge davon hatte ich dann meinerseits den
Heckenschützen fast kaltblütig umgebracht. Aber anders als die anderen Zeugen
meiner Wut war mir Hank — einer meiner ältesten Freunde und in gewisser Weise
mein liebster — sogar noch nähergekommen. Er ist ein Mensch, der die seltene
Gabe hat, die Dinge von ihrer positiven Seite zu sehen. Seiner Ansicht nach
hatte ich in meiner Schutzaufgabe nicht versagt, sondern ihm das Leben
gerettet, indem ich ihn aus der Schußbahn gestoßen hatte. Und meine
Gewalttätigkeit gegen den Heckenschützen hatte er nur als ein Zeichen für die
Tiefe meiner ganz und gar platonischen Liebe für ihn gedeutet.
    Nach einer Weile sagte er: »Sex ist
kein Thema, über das ich mich derzeit gern verbreite, wenn ich bedenke, daß
meine Frau nun bereits dreiundzwanzig Tage fort ist. Was für einen Eindruck
hattest du von ihr?«
    »Sie sieht toll aus, und was sie zu
erzählen hat, hört sich toll an. Hank, es ist, als begänne sie wieder zu
leben.«
    »Den Eindruck habe ich auch, wenn ich
mit ihr telefoniere. Um glücklich zu sein, braucht Anne-Marie einen Fall, für
den sie kämpfen kann. Mit diesem Job bei der Coalition hat sie so einen.«
    Ich zögerte und stellte ihm dann die
Frage, die ich Anne-Marie nicht zu stellen gewagt hatte, aus Angst, sie könnte
sich dadurch unter Druck gesetzt fühlen: »Glaubst du, sie wird jemals zu All
Souls zurückkehren?«
    »Nein. Und ich möchte es auch nicht.
Als wir unsere juristische Ausbildung hinter uns hatten und gerade die
Kooperative gründeten, war das für sie eine aufregende Sache. Aber jetzt... zum
Teufel, jetzt sind wir etabliert.«
    »Was ist daran schlimm? Wir haben die
Idee durchgesetzt, daß auch Leute mit geringem Einkommen das Recht haben, vor
dem Gesetz angemessen vertreten zu werden. Haben daraus eine
Selbstverständlichkeit gemacht.«
    Hank nahm die Brille ab und putzte sie
mit seinem Taschentuch. »Daran ist überhaupt nichts schlimm. Ich mag es,
selbstverständliche Dinge zu tun. Ich mag es, wenn mich einer der
stellvertretenden Bürgermeister anruft und mir die Würmer aus der Nase ziehen
will. Zum Teufel, ich nehme sogar gerne meinen Lunch mitten in der Menge in der
City Hall. Aber Anne-Marie — sie muß immer an der Schnittstelle der
Veränderungen sein.«
    »Selbst wenn es bedeutet, so lange Zeit
von dir und ihren Freunden getrennt zu sein?«
    »Selbst dann. Und ich würde es auch
nicht anders machen.« Er setzte die Brille wieder auf und stand auf. »Ich lasse
dich jetzt besser Weiterarbeiten. Wenn du für Anne-Maries Geschichte mehr Zeit
brauchst, dann nimm sie dir. Sie hat mir gestern abend versprochen, daß die
Coalition dir deinen Zeitaufwand großzügig honorieren wird.«
    »Großzügig?«
    »Vielleicht sagte sie auch angemessen.«
    »Das klingt wahrscheinlicher.«
    Er blinzelte mich an und verließ das
Büro.
    Ich lächelte ihm nach. Unsere kurze
Unterhaltung hatte mich noch gewisser gemacht, daß Hanks und Anne-Maries Ehe
wieder in festen Gleisen verlief. Nach anfänglichen Schwierigkeiten hatte sich
zwischen ihnen eine zugleich enge und freie Beziehung entwickelt, tragfähig und
voller Respekt für den anderen. Vielleicht mußte die Ehe doch keine so
einengende Institution...
    Mein Blick blieb an der langstieligen
gelben Rose in der Vase auf meinem Schreibtisch hängen. Sie war kurz nach neun
hier abgegeben worden, in grünes Wachspapier verpackt und von einem gelben Band
zusammengehalten. Keine Karte, nur eine einzelne, makellose Rose. Spontan
wählte ich die Telefonnummer von Georges Wohnung auf dem Russian Hill, obwohl
ich wußte, daß er jetzt gerade in Stanford Vorlesung hatte.
    Nach dem Pfeifton, den mir seine Stimme
abzuwarten riet, sagte ich: »Hi, ich bin wieder zurück — aber wie ich sehe,
weißt du das schon. Um halb sechs kommt Ma. Um sieben sind wir fein
herausgeputzt bei dir. Ach was, lassen wir lieber das Herausputzen. Wir kommen
ganz normal angezogen und bringen Wein und das Dessert mit, wie verabredet. Bis
dann.«
    Es war bei meiner Rückkehr gestern
abend — Ralphie und Allie waren ganz aus dem Häuschen — zu spät gewesen, um ihn
noch anzurufen. Am Vormittag hatte ich auf dem Weg zurück in die City in
Bridgeport angehalten, einer Stadt mit rund fünfhundert Einwohnern, die sich
auf einer Hochebene fünfzehn Meilen nördlich von Vernon ausbreitete.
Wirtschaftlich schien sie größtenteils auf Tourismus

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