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Niemandsland

Niemandsland

Titel: Niemandsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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streckte die Arme aus und rief: »So kannst du nicht
weitermachen!«
    »Was? Jemanden observieren? Verfolgen?
Mit zwei linken Füßen über die Treppe stolpern?«
    »Siehst du? Du blödelst schon wieder.
Das ist aber nicht komisch, Sharon.«
    Ich schloß den Aktenkoffer und legte
meine Hände darauf. »Rae, wenn du keinen Sinn für die Komik — «
    »Komik!« Sie blieb stehen und sah mich
an, die Arme vor der Brust gekreuzt und die Hände um die gegenüberliegenden
Ellbogen gelegt. In ihren Augen standen Empörung und ein anderes Gefühl, nur
halbwegs verborgen. Überrascht stellte ich fest, daß Ted recht hatte: Rae hatte
Angst — und ich wußte, wovor.
    Ich sagte: »Du denkst an vergangenen
Sommer, nicht wahr? Damals habe ich dir einen Schrecken eingejagt.«
    »Mir einen Schrecken eingejagt?« Mit einem ›Pah!‹ wischte
sie das weg, doch da sie schnell den Blick abwandte, erkannte ich, daß ich ins
Schwarze getroffen hatte.
    »Ja, dir einen Schrecken eingejagt. Du
hast Angst, daß du wirst wie ich, wenn du in diesem Job bleibst.«
    Sie schwieg und sah auf ihre
verschränkten Arme.
    »Das ist der wahre Grund deiner
Moralpredigten und Nörgeleien«, sagte ich. »Du wirst mit dieser durchaus
berechtigten Angst nicht fertig, deshalb bist du so wütend auf mich.«
    Ich dachte, sie würde das leugnen, aber
statt dessen sah sie auf, und Erleichterung breitete sich über ihr Gesicht. Und
gleich darauf wieder neue Angst. »Berechtigte Angst?«
    »Genau. Wenn du jahrelang in einem
Beruf arbeitest, dessen wesentliche Aufgabe darin besteht, tief im Morast
menschlichen Verhaltens herumzuwühlen, dann bist du zwangsläufig eines Tages
desillusioniert und zornig. Wie du mit diesen Gefühlen umgehst, hängt von deiner
Persönlichkeit ab.«
    »Und du glaubst, du kannst mit ihnen
umgehen?«
    »Das habe ich nicht gesagt. Ich gehe
nur so damit um, wie ich es kann.«
    »Vergangenen Sommer hast du fast
jemanden getötet — «
    »Aber ich habe ihn nicht getötet.« Hy
Ripinsky mochte ein Lügner und Betrüger sein, aber er hatte mir geholfen, der
Wahrheit ins Gesicht zu sehen: Das einzige, was zählte, war, daß ich niemandem
das Leben genommen hatte, ganz gleich, wie sehr ich es gewollt hatte.
    Rae sagte: »Aber bis dahin hast du
immer so ruhig gewirkt, so beherrscht.«
    »Das ist nur meine äußere Schale.« Ich
schwieg und dachte daran zurück, was meine Mutter mir gestern abend gesagt
hatte. »Weißt du, ich habe immer behauptet, daß alle unerwünschten
Veränderungen in meinem Verhalten — Zynismus, Wut und was sonst noch — ein
Ergebnis dessen sind, was ich im Verlauf meiner Arbeit erfahren und getan habe.
Aber jetzt bin ich nicht mehr so sicher, daß das die ganze Wahrheit ist.
Vielleicht verändern uns unsere Erfahrungen im Älterwerden gar nicht so sehr, sondern
sie betonen nur stärker, wer und was wir wirklich sind.«
    »Und was bedeutet das? Daß du tief in
deinem Innern, wo es darauf ankommt, nichts anderes bist als eine wütende alte
Zynikerin?«
    »Ich hoffe, nicht. Doch ehrlich gesagt,
ich weiß es nicht.«
    »Meinst du nicht, du solltest
inzwischen wissen, wer und was du bist?«
    »Ach, Rae.« Plötzlich berührte es mich,
wie furchtbar jung sie war. »Niemand weiß das je genau. Unser ganzes Leben ist
nur eine Annäherung daran, und jedesmal, wenn wir glauben, wir hätten es
heraus, wird plötzlich wieder alles anders.«
    »Das ist ja nicht gerade tröstlich.«
    »Tut mir leid, Kleines — das ist alles,
was ich dir bieten kann.«
    Raes Gesichtsausdruck blieb deprimiert,
als sie darüber nachdachte. Erst als ich meinen Aktenkoffer aufhob und um den
Schreibtisch herumkam, sprach sie wieder. »Ehm, Shar... Es tut mir leid, daß
ich aufgelegt habe.«
    »Das ist okay — ich kann es verstehen.«
    »Wohin rennst du übrigens so eilig weg?
Du hast mir noch gar nicht alles über den Fall erzählt.«
    Aber ich hatte jetzt keine Zeit mehr.
Außerdem war ich immer noch ein wenig aufgebracht über Raes Verhalten. Nachdem
sie aber so wild darauf war, ihre Fähigkeiten als Detektivin unter Beweis zu
stellen, sollte sie eine Nuß zu knacken bekommen.
    »Ich mache mich auf zu den
feuerspeienden Bergen«, sagte ich.

 
     
     
     
    D ritter T eil
    D er f euerspeiende B erg

21
     
    Es war kalt in Reno. Als mich der erste
frostige Windstoß traf, war ich froh, meine gewohnte Wildlederjacke gegen eine
wollene Stoffjacke vertauscht zu haben. Während ich die Gangway hinunter stieg,
entdeckte ich Ripinsky unten auf der Rollbahn,

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