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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Decker
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glaubt, die Deutschen werden seit dem großen Sieg immer dümmer. Er möchte auch gar nicht mehr deutsch sprechen. Am liebsten nur noch griechisch oder lateinisch. Das macht Richard Wagner sehr traurig.
    Noch ahnt er nicht, dass auch den deutschen Dichter Richard Wagner niemand tiefer verstehen wird als der eigenwillige, antideutsche Professor.
    Er ist, schon jetzt, ein Sprachphilosoph von hohen Graden. Herbstnotizen:
    Aller Verkehr unter Menschen beruht darauf, daß der eine in der Seele des andern lesen kann; und die gemeinsame Sprache ist der tönende Ausdruck einer gemeinsamen Seele. 337 Friedrich Nietzsche, der Sprachphilosoph. Denn um die Sprache geht es doch immer, egal, ob er über die Tragödie, die Musik, die Philosophie oder Richard Wagner nachdenkt, es geht um Ursprünge, also um Sprache: Je inniger und zarter jener Verkehr wird, um so reicher die Sprache; als welche mit jener allgemeinen Seele wächst oder – verkümmert. Sprechen ist im Grunde ein Fragen des Mitmenschen, ob er mit mir die gleiche Seele hat; die ältesten Sätze scheinen mir Fragesätze und im Accent vermuthe ich den Nachklang jenes ältesten Fragens der Seele an sich selbst, aber in einem anderen Gehäuse. Erkennst du dich wieder? – dies Gefühl begleitet jeden Satz des Sprechenden; er macht den Versuch eines Monologs und Zwiegesprächs mit sich selbst. Je weniger er sich wieder erkennt, um so mehr verstummt er, und im erzwungenen Verstummen wird seine Seele ärmer und kleiner. 338
    Friedrich Nietzsche denkt darüber nach, was geschehen müsste, würde man die Menschen zwingen, ab sofort zu schweigen. Würden sie sich nicht zu Pferden und Seehunden und Kühen zurückbilden? Kann schon sein, dass Professor Ritschl seinen begabtesten Schüler schon wieder nicht verstehen würde, denn keine »strengste Methode« führt auf diesen Pfad, wohl aber elementarste Wahrnehmung. Pferden, Seehunden und Kühen sehe man an, was es heiße, nicht sprechen zu können: nämlich so viel als eine dumpfe Seele zu haben.
    Der Jahresendphilosoph ist mit seinen Schlussfolgerungen noch längst nicht am Ende: Nun haben in der That viele Menschen und mitunter die Menschen ganzer Zeiträume etwas von Kühen an sich; ihre Seele liegt dumpf und lässig in sich. Sie mögen springen und grasen und sich anstieren, es ist nur ein elender Rest von Seele unter ihnen gemeinsam. Nein, er hält nichts von der Meinung der materialistischen Modephilosophen, die glauben, dass die Not die Sprache erzeuge. Wenn, dann höchstens die Noth einer ganzen Heerde, eines Stammes, aber damit diese als das Gemeinsame empfunden werde, muß schon die Seele weiter als das Individuum ist geworden sein, sie muß auf Reisen gehen, sich finden wollen , sie muß erst sprechen wollen , bevor sie spricht; und dieser Wille ist nichts Individuelles. Und Friedrich Nietzsche stellt sich ein mythologisches Urwesen vor, mit hundert Köpfen und Füßen und Händen: es würde mit sich selbst reden; und erst als es merkte, daß es mit sich wie mit einem zweiten, dritten, ja hundertsten Wesen reden könnte, liess es sich in seine Theile zerfallen, die einzelnen Menschen, weil es wußte, daß es nicht ganz seine Einheit verlieren könne. 339 Er ist zu sehr Musiker, um an die Not als Mutter der Sprache glauben zu können: Und klingt das herrliche Tonwesen einer Sprache nach Noth …? Ist nicht alles mit Lust und Üppigkeit geboren, frei und mit den Zeichen betrachtenden Tiefsinns? … Ein Volk, welches sechs Casus hat und seine Verben mit hundert Formen abbeugt, hat eine volle gemeinsame und überströmende Seele. 340
    Er denkt nicht an Bayreuth, als er dies schreibt. Aber es wäre nicht verkehrt: ein Ort gemeinsamer Seelenbildung soll es sein, etwas beinahe Geringes, von dem doch größer nicht gedacht werden kann. Bayreuth sei der Ort, an dem die Menschen erfahren werden, dass sie die gleiche Seele haben.
    Friedrich Nietzsche weiß genau, wo er im nächsten Sommer sein wird, mindestens einen Monat lang: bei den ersten Hauptproben des »Ring«.

Bayreuther Festspiele 1892, Gemälde von G. Laska.
    Friedrich Nietzsche in Bayreuth
    Das Semester ist erst am 28. Juli zu Ende, aber Friedrich Nietzsche hält es nicht mehr aus. Bayreuthfähig? Um Weihnachten hatte er schon nicht mehr geglaubt, das neue Jahr überhaupt noch zu erleben. Er ist zu krank, noch immer, und wer weiß, wie lange er bis nach Bayreuth braucht. Außerdem hatte Malwida von Meysenbug, die Freundin, ihm nahegelegt, unbedingt schon zu den Proben

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