Niewinter 4: Die letzte Grenze
unwiderruflich zerstörte Beziehung undenkbar erschien.
Oder doch nicht?
Als wir gegen Erzgo Alegni kämpften, glaubte Dahlia, sich ihrem Dämon zu stellen, aber das war nicht der Fall. Auf dieser Reise hingegen fand sie ihren Dämon, als sie Effron gegenüberstand, und es war nicht der geschundene junge Tiefling, sondern der Riss in ihrem eigenen Herzen. Effron diente nur als Symbol dafür, ein Spiegelbild ihrer selbst und dessen, was sie getan hatte.
Aus Effrons Perspektive war es ebenso. Er war vielleicht weniger schuldbeladen, aber auch sein Herz war zerrissen. Er hatte das Schlimmste überlebt, was eine Mutter einem Kind antun kann, und sich danach unablässig abgestrampelt, um den unerfüllbaren Erwartungen und Forderungen seines brutalen Vaters nachzukommen. Ohne Freunde und ohne Beistand war er im Schatten von Erzgo Alegni aufgewachsen. Wer konnte eine derartige Tortur unbeschadet überstehen?
Doch trotz allem besteht für beide noch Hoffnung. Effrons Gefangennahme in Baldurs Tor (für die wir alle ewig in Bruder Afafrenferes Schuld stehen!) zwang Dahlia und ihren Sohn, sich lange auf engstem Raum miteinander zu beschäftigen. Beide mussten sich ihren eigenen Dämonen stellen, denn sie konnten dem Symbol dafür, ihrem Spiegelbild, nicht mehr ausweichen.
Deshalb war Dahlia gezwungen, sich mit ihren Schuldgefühlen auseinanderzusetzen. Sie musste sich ehrlich eingestehen, was sie getan hatte, und dabei erneut Tage durchleben, an die sie sich lieber nie mehr erinnert hätte. Noch immer ist sie aufgewühlt, aber ihre Last ist deutlich leichter, denn zu ihrer Ehrenrettung muss ich sagen, dass sie ihre Aufgabe ehrlich und aufrichtig bewältigt hat.
Anders geht es auch nicht, oder?
Und sie wirkt umso erlöster, weil Effron großzügig ist, vielleicht aus einem Bedürfnis heraus, das nicht einmal er bisher versteht. Er hat sich ihr und uns angenähert. Mir hat er verraten, wo Guenhwyvar steckt, und das bedeutet eine unbestreitbare Loslösung von dem Leben, das er bis zu seiner Festnahme in Baldurs Tor führte. Ich weiß nicht, ob er Dahlia verziehen hat, ob er es jemals tun wird, aber seine Feindseligkeit hat jedenfalls abgenommen, und schon dadurch werden Dahlias Schritte leichter.
Ich beobachtete dies als jemand, der sich sein Leben lang um Aufrichtigkeit bemüht hat. Wenn ich unter den Sternen mit mir selbst spreche oder wenn ich diese Zeilen schreibe, gibt es für mich kein Versteck. Ich will auch keines! Darum geht es. In erster Linie muss ich mich meinen eigenen Schwächen stellen, ohne Rechtfertigung, ohne Ausrede. Nur so kann ich darauf hoffen, sie eines Tages zu überwinden.
Ich muss ehrlich sein.
Seltsamerweise fällt mir das leichter, wenn mir genau eine Person zuhört, nämlich ich selbst. Das war mir bisher nie klar, und ich weiß nicht, ob es stimmte, als ich noch mit meinen alten Freunden umherzog, mit Bruenor und seiner brutalen Direktheit und mit den anderen dreien, denen ich absolut vertraute. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, galt damals wohl eher das Gegenteil: Ich liebte Catti-brie schon Jahre, bevor ich es mir eingestand. Catti-brie wusste es seit unserer ersten Reise nach Calimhafen, als wir Regis zu Hilfe eilten, und ihre Andeutungen weckten mich aus meiner Selbsttäuschung. Oder war ich wirklich so blind gewesen?
Sie weckte mich, obwohl ich absichtlich die Augen verschloss, weil ich mich vor den Folgen fürchtete, wenn ich mir eingestand, wonach ich mich sehnte.
Hätte ich ihr mehr vertrauen müssen? Wahrscheinlich schon, ihr und auch Wulfgar. Das ist der Preis, der Preis, den andere zahlen mussten und der meine Verantwortung noch erhöht.
Natürlich gibt es Zeiten, in denen man Herzensregungen lieber für sich behält, weil die Wunde, die man durch Ehrlichkeit schlägt, schlimmer wäre als der Preis der Lüge. Und deshalb sehe ich jetzt, da Luskan am Horizont erscheint, Dahlia an und bin hin- und hergerissen.
Denn inzwischen weiß ich, wie es wirklich um mein Herz bestellt ist. Ich wollte es nicht wahrhaben. Ich habe dagegen angekämpft und jede erdenkliche Ausrede benutzt, weil ich sonst wieder einmal anerkennen müsste, was ich verloren habe, was unwiederbringlich dahin ist.
Ich habe Dahlia gefunden, weil ich allein war. Sie ist aufregend, das kann ich nicht bestreiten, und sie ist faszinierend, und es geht mir besser, seit ich mit ihr umherziehe. Was wir in Niewinter, in Gauntlgrym, in Letzthafen und mit Stuyles’ Bande vollbracht haben, hat die Welt ein Stückchen besser
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