Niewinter 4: Die letzte Grenze
ihn nur dieses eine Mal auf der Fähre gesehen, aber in Zehn-Städte und besonders in Osthafen, wo es in die Tundra hinausging, kursierten viele Geschichten über den Drow-Waldläufer. Vor hundert Jahren hatte Drizzt bei dem Friedensabkommen zwischen Zehn-Städte und den Barbaren eine zentrale Rolle gespielt, und dieser Frieden hielt bis heute an. Ganz zu schweigen von seinen legendären Taten bei der Verteidigung der Bürger vor dem teuflischen gesprungenen Kristall.
Auch wenn kaum einer der heutigen Bewohner von Zehn-Städte Drizzt gegenwärtig kannte – schließlich hatten nur ein paar Elfen aus Waldheim die Zeiten von Akar Kessell und dem gesprungenen Kristall miterlebt –, würden ihm hier wohl alle Türen offen stehen. Für diese finsteren Drow-Abenteurer galt das allerdings kaum, dachte der angespannte Kapitän.
Deshalb war er froh, als er sein Boot um die letzte Klippe in die flache, geschützte Bucht am Ostufer des Sees steuerte. Er holte das Segel ein und überließ das Boot der Strömung, bis er das Steuer feststellte, den Anker setzte und die lange Planke für den Ausstieg hinausschob. Aufgrund seiner jahrelangen Übung ging das Anlegen normalerweise sehr schnell, aber heute hatte der Kapitän die Brücke zum Strand noch schneller bereit als je zuvor.
Als die Drow von Bord gingen, zog er sich in die vorderste Ecke seiner Fähre zurück.
»Genau hier hast du Drizzt abgesetzt?«, vergewisserte sich Tiago, der als Vorletzter ausstieg. Hinter ihm war nur noch Jearth.
»Genau hier«, bestätigte der Kapitän.
»Vor einem Zehntag?«
»Vor einem Zehntag, mein Herr.«
»Du wartest hier, bis wir zurück sind.«
Der Kapitän riss die Augen auf. Er hatte eingewilligt, sie überzusetzen, und das Fahrgeld dafür erhalten, aber trotz des rauen Wetters wollte er Knöchelkopfforellen angeln. Oder eher gerade deswegen, denn bei diesem Wetter bissen sie leichter an.
»Aber …«, begann er, doch der Drow fixierte ihn mit einem derart bösen Blick, dass ihm klar war, dass jeder Widerspruch auf der Stelle tödlich enden konnte.
»Du wartest hier, bis wir zurück sind«, wiederholte Tiago.
»W-wie lange?«, stammelte der Kapitän.
»Bis ans Ende deines Lebens, wenn es sein muss«, sagte Tiago. »Und dann bringst du uns entweder nach Osthafen zurück, oder du fährst so lange zwischen Osthafen und diesem Ort hier hin und her, bis der Rest meiner Truppe hier ist.«
Bei dem Gedanken an noch mehr derart gefährliche Fahrgäste überlief den Kapitän eine Gänsehaut. Wo war er da nur hineingeraten?, fragte er sich und malte sich eine ganze Drow-Armee aus, die Osthafen niederbrannte.
Als sich an diesem Abend die Sonne senkte, atmete der Kapitän erleichtert auf, denn Tiago und die anderen verließen sein Boot erneut, diesmal jedoch in Osthafen. Sie hatten dort draußen keine Spur von Drizzt gefunden und bald gemerkt, wie absurd es wäre, den Waldläufer, der sich in der Tundra weit besser auskannte als sie, aufspüren zu wollen.
Deshalb quartieren sich Tiago und eine Handvoll ausgewählter Drow im Wirtshaus von Osthafen ein, während die übrigen in einem von Ravel und den anderen Zauberspinnern erschaffenen extradimensionalen Bereich lagerten, wo sie auf Abruf bereit blieben.
Und sie warteten.
Es verging ein weiterer Zehntag. Tiago knüpfte über Saribels Priesterinnen Fäden nach Bryn Shander, um dort einheimische Spurenleser anzuheuern und sein Netz über ganz Zehn-Städte auszudehnen, bis hin zu den Heldenhammer-Zwergen unter dem Berg. Ravel und seine Zauberspinner setzten ihre Wahrsagefähigkeiten ein, während Saribel mit den Priesterinnen die Zofen der Lolth anflehte, ihre Suche zu unterstützen.
Ein Monat verstrich. Tiago heuerte Leute an, die bei den Barbarenstämmen nach dem verschwundenen Drow fragen sollten.
Doch es verging ein weiterer Monat ohne jede Nachricht über Drizzt, und selbst die Wesen von anderen Ebenen, welche die Priesterinnen und Zauberkundigen beschworen hatten, fanden keine Spur von ihm. Der Sommer neigte sich dem Ende zu. Bald würden die Bergpässe verschneit und unzugänglich sein. Dann wäre das Eiswindtal wieder vom Rest von Faerûn abgeschnitten. Ab dem ersten Schneesturm kam keine Karawane mehr über die einzige Straße, die das Eiswindtal mit den Ländern südlich des Grats der Welt verband.
Keine Karawane, richtig, aber den Balor, der mit jedem Schritt seiner Dämonenfüße den Schnee zum Dampfen brachte, konnte der Sturm nicht zurückhalten.
Eine gewaltige Explosion
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