Night World - Retter der Nacht
ihre Sinne waren schärfer geworden, auch wenn
ihr Verstand betäubt war. Als sie in den Spiegel schaute, war sie überrascht, wie weiß sie war. Ihre Haut war durchsichtig wie Kerzenwachs. Ihre grünen Augen waren so leuchtend grün, dass sie zu brennen schienen.
Die anderen sechs Male, die James anrief, sagte ihre Mutter ihm, dass Poppy gerade schlafen würde.
Cliff reparierte Poppys kaputten Frisiertisch. »Wer hätte gedacht, dass der Kerl so stark ist?«, wunderte er sich.
James schaltete sein Handy aus und schlug mit der Faust auf das Armaturenbrett des Porsches. Es war Donnerstagnachmittag.
Ich liebe dich. Das hätte er zu Poppy sagen müssen. Jetzt war es zu spät. Sie wollte nicht einmal mehr mit ihm reden.
Warum hatte er es nicht gesagt? Seine Gründe kamen ihm inzwischen dumm und blöd vor. Gut, er hatte Poppys Unschuld und ihre Dankbarkeit nicht ausgenutzt, na bravo. Er hatte nur ihre Adern angezapft und ihr das Herz gebrochen.
Er hatte nur ihren Tod beschleunigt.
Aber er hatte keine Zeit, jetzt darüber nachzudenken. Im Moment musste er sich darauf konzentrieren, eine oscarreife Vorstellung hinzulegen.
Er stieg aus, zog seine Windjacke fester um sich und ging auf die große Villa im Ranchstil zu.
Er schloss die Tür auf und öffnete sie, ohne sich bemerkbar zu machen. Das war auch nicht nötig. Seine Mutter spürte auch so, dass er gekommen war.
Drinnen waren die Decken hoch wie in einer Kathedrale und die Wände fast kahl, was gerade modern war. Seltsam war nur, dass jedes der vielen Oberlichter mit eleganten Designerstoffen verdeckt war. Dadurch wirkte der Raum noch größer und war in dämmriges Licht gehüllt. Man kam sich fast wie in einer Höhle vor.
»James«, begrüßte ihn seine Mutter, die aus dem hinteren Flügel kam. Sie hatte pechschwarzes Haar, das wie Lack glänzte, und ihre schlanke Figur wurde durch ein mit Silber und Gold durchwirktes Wickelkleid noch betont. Ihre grauen Augen blickten kühl und waren von dichten Wimpern umrandet wie die von James. Sie warf neben seiner Wange ein Küsschen in die Luft.
»Ich habe deine Nachricht bekommen«, sagte James. »Was willst du?«
»Ich würde lieber damit warten, bis dein Vater nach Hause kommt …«
»Tut mir leid, Mom, aber ich hab’s schrecklich eilig. Ich muss eine Menge Dinge erledigen und habe noch nicht einmal Nahrung zu mir genommen.«
»Das sieht man.« Sie musterte ihn einen Moment. Dann seufzte sie und ging ins Wohnzimmer. »Wir wollen uns wenigstens setzen. Du wirkst in den letzten Tagen ziemlich durcheinander, habe ich recht?«
James ließ sich auf der purpurrot gefärbten Samtcouch nieder. Jetzt wurde sein Schauspieltalent auf die Probe gestellt. Wenn er die nächsten Minuten überstand, ohne dass seine Mutter die Wahrheit spürte, hatte er gewonnen.
»Ich bin sicher, dass Dad dir erzählt hat, woran das liegt«, antwortete er ruhig.
»Ja. Die kleine Poppy. Das ist sehr traurig, nicht wahr?« Der Schirm der einzigen, verästelten Stehlampe war dunkelrot und tauchte das Gesicht seiner Mutter in rubinrotes Licht.
»Zuerst war ich ziemlich erschüttert. Aber inzwischen bin ich einigermaßen darüber hinweg.« Er sprach mit ausdrucksloser Stimme und konzentrierte sich darauf, nichts, aber auch gar nichts durch seine Aura auszustrahlen. Er konnte spüren, wie seine Mutter sanft die Ränder seines Verstandes abtastete. Wie ein Insekt, das zärtlich mit seinem Fühler streichelt, oder eine Schlange, die mit ihrer schwarzen, gespaltenen Zunge die Luft prüft.
»Ich bin überrascht«, sagte sie schließlich. »Ich dachte, du magst sie.«
»Das tue ich auch. Aber schließlich sind Menschen keine ernst zu nehmenden Wesen, oder?« Er überlegte einen Moment, dann fuhr er fort. »Es ist eher so, als ob man ein geliebtes Haustier verliert. Ich werde mir wohl einfach ein neues zulegen müssen.«
Es war gewagt, eine der Richtlinien der Nachtwelt so
getreu nachzubeten. James brauchte seine ganze Willenskraft, um völlig entspannt zu bleiben. Er fühlte, wie sich der Griff der geistigen Tentakel verstärkte und nach einer Kerbe in seiner Rüstung suchte. Er konzentrierte sich voll - auf Marylyn Vasquez. Und versuchte, genau den richtigen Anteil an nachsichtiger Zärtlichkeit für sie auszusenden.
Es klappte. Die bohrenden Tentakel ließen seinen Verstand in Ruhe. Seine Mutter lehnte sich graziös zurück und lächelte. »Ich freue mich, dass du es so gut aufnimmst. Aber wenn du jemals das Gefühl haben solltest, dass
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