Night World - Retter der Nacht
neben dem Grab auf die Erde fallen.
»Komm schon, Poppy. Steh auf. Wir müssen gehen.« James sprach mit leiser, beharrlicher Stimme, als würde er zu jemandem reden, der gerade aus der Narkose erwachte.
Genauso sah Poppy aus. Während Phil mit Staunen, Faszination und Angst zusah, blinzelte sie und rollte den Kopf leicht hin und her. Dann öffnete sie die Augen,
schloss sie jedoch sofort wieder. Aber James sprach weiter auf sie ein, und als sie sie beim nächsten Mal öffnete, blieben sie auf.
Dann drängte James sie sanft dazu, sich aufzusetzen.
»Poppy!«, rief Phil unwillkürlich. Seine Brust schwoll an und brannte.
Poppy sah hoch. Sie blinzelte und drehte sich instinktiv vom Licht der Taschenlampe weg. Sie wirkte verärgert.
»Komm.« James half ihr aus der offenen Hälfte des Sargs. Es war nicht schwer. Poppy war so zierlich. James stützte sie und sie kletterte auf die geschlossene Hälfte. Phil griff in das Loch und zog sie hoch.
Dann umarmte er sie heftig.
Als er sie losließ, musterte sie ihn und runzelte leicht die Stirn. Sie leckte an ihrem Zeigefinger und fuhr ihm damit über die Wange.
»Du bist schmutzig«, stellte sie fest.
Sie konnte reden. Sie hatte keine roten Augen und kein kalkweißes Gesicht. Sie war wirklich lebendig.
Schwach vor Erleichterung umarmte Phil sie wieder. »Oh Gott, Poppy. Du bist okay. Du bist wirklich okay.«
Er merkte kaum, dass sie seine Umarmung nicht erwiderte.
James kletterte aus dem Loch. »Wie fühlst du dich, Poppy?«, fragte er prüfend.
Poppy sah erst zu ihm und dann zu Phil.
»Ich fühle mich - gut.«
»Prima«, sagte James und musterte sie weiterhin so misstrauisch, als wäre sie ein sechshundert Pfund schwerer, schizophrener Gorilla.
»Ich bin - hungrig«, erklärte sie mit derselben melodischen, freundlichen Stimme von eben gerade.
Phil war verwirrt.
»Warum stellst du dich nicht hierher, Phil?«, fragte James und machte eine Geste hinter seinen Rücken.
Phil beschlich langsam ein sehr ungutes Gefühl. Was machte Poppy da …? Roch sie etwa an ihm? Nicht laut und nass wie ein Hund, sondern mit den kleinen, graziösen Bewegungen einer Katze. Sie schnüffelte an seiner Schulter herum.
»Phil, ich denke wirklich, du solltest herkommen«, sagte James mit mehr Nachdruck. Aber dann geschah alles so schnell, dass Phil nicht mehr dazu kam, sich zu bewegen.
Zierliche Hände umklammerten hart wie Stahl seinen Oberarm. Poppy lächelte ihn mit sehr scharfen Zähnen an, dann fuhr sie ihm wie eine zustoßende Kobra an den Hals und warf ihn zu Boden.
Ich werde sterben, dachte Phil mit seltsamer Ruhe. Er konnte sie nicht bekämpfen. Aber ihr erster Versuch ging daneben. Die scharfen Zähne ritzten seinen Hals wie glühende Nadeln.
»Nein, das tust du nicht.« James legte seinen Arm
um Poppys Taille und zog sie von Phil herunter. Poppy heulte enttäuscht auf. Während Phil sich aufrappelte, beobachtete sie ihn wie eine Katze ein interessantes Insekt. Sie wandte den Blick nicht von ihm ab, selbst als James mit ihr sprach.
»Das ist Phillip, dein Bruder. Dein Zwillingsbruder. Erinnerst du dich?«
Poppy starrte Phil nur aus riesigen Pupillen an. Ihm fiel jetzt auf, dass sie nicht nur bleich und wunderschön, sondern auch benommen und ausgehungert aussah.
»Mein Bruder? Einer von unserer Art?« Poppy hörte sich verwirrt an. Ihre Nasenflügel zitterten und ihre Lippen öffneten sich leicht. »Er riecht aber nicht so.«
»Nein, er ist nicht von unserer Art. Aber er darf auch nicht gebissen werden. Du musst dich noch ein wenig gedulden, bevor du Nahrung bekommst.« Zu Phil gewandt, sagte er: »Komm, wir müssen das Loch wieder zuschütten.«
Phil konnte sich zuerst nicht bewegen. Poppy beobachtete ihn immer noch auf verträumte, aber sehr eindringliche Art. Sie sah in der Dunkelheit in ihrem besten weißen Kleid und mit den roten Locken schön aus wie ein Engel. Ein Engel mit den wilden Augen eines Jaguars.
Sie war nicht mehr menschlich. Sie war etwas anderes geworden. Sie hatte es selbst gesagt. Sie und James waren von einer Art und Phil unterschied sich
von ihnen. Poppy gehörte jetzt zu den Geschöpfen der Nachtwelt.
Vielleicht hätte ich sie besser sterben lassen sollen, dachte er und hob die Schaufel mit schwachen, zitternden Händen auf. James hatte inzwischen wieder den Deckel auf die Gruft gehievt. Phil schaufelte Erde in die Grube, ohne zu sehen, wo sie landete. Sein Kopf wackelte, als sei sein Hals nur ein Strohhalm.
»Stell dich nicht so an«,
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