Night World - Retter der Nacht
sagte eine Stimme, und harte Finger schlossen sich kurz um sein Handgelenk. Wie durch einen Schleier sah er James.
»Sie wäre nicht besser dran, wenn sie tot wäre. Sie ist im Moment nur verwirrt. Das gibt sich wieder, kapiert?«
Die Worte waren grob, aber Phil fühlte sich dennoch ein wenig getröstet. Vielleicht hatte James recht. Das Leben war schön, egal in welcher Form. Und Poppy hatte diese Form gewählt.
Trotzdem, sie hatte sich verändert, und erst mit der Zeit würde sich zeigen, wie sehr.
Phil hatte den Fehler gemacht zu glauben, dass Vampire wie Menschen wären. James war ihm inzwischen so vertraut geworden, dass er die Unterschiede fast vergessen hatte.
Diesen Fehler würde er kein zweites Mal machen.
Poppy fühlte sich wunderbar - jedenfalls fast.
Sie war geheimnisvoll, stark und in einer romantischen
Stimmung. Ihre Möglichkeiten erschienen ihr grenzenlos. Sie schien ihren alten Körper abgestreift zu haben wie eine Schlange, die sich häutet. Darunter war ein frischer, neuer Körper zum Vorschein gekommen.
Und der Krebs war fort. Das spürte sie.
Es war fort, das schreckliche Ding, das in ihr Amok gelaufen war. Ihr neuer Körper hatte es vernichtet und irgendwie absorbiert. Oder vielleicht lag es daran, dass jede Zelle, jedes Molekül, aus dem Poppy North bestand, sich verändert hatte.
Egal, was es war, sie fühlte sich so voller Kraft und gesund wie noch nie zuvor in ihrem Leben.
Das einzige Problem lag darin, dass sie schrecklich hungrig war. Sie brauchte ihre ganze Willenskraft, um nicht über den blonden Jungen in dem Loch herzufallen. Über Phillip. Ihren Bruder.
Sie wusste, dass er ihr Bruder war, aber er war auch ein Mensch, und sie konnte den reichhaltigen, magischen Saft wittern, der durch seine Adern floss. Diese elektrisierende Flüssigkeit, die sie zum Überleben brauchte.
Dann beiß ihn doch, flüsterte ein Teil ihres Verstands. Poppy runzelte die Stirn und versuchte, den Gedanken zu verdrängen. Sie fühlte, wie etwas in ihrem Mund gegen ihre Unterlippe stieß. Unwillkürlich tastete sie mit dem Daumen danach.
Es war ein Zahn. Ein zierlicher, gebogener Zahn. Ihre
beiden Eckzähne waren lang, spitz und sehr empfindlich geworden.
Wie seltsam. Sie rieb sanft über ihre neuen Zähne, dann erforschte sie sie vorsichtig mit der Zunge. Sie presste sie gegen ihre Lippe.
Nach einem Moment schrumpften sie wieder auf normale Größe zusammen. Sie drückte sie erneut gegen ihre Unterlippe. Wenn sie an Menschen dachte, die voller Blut waren, wuchsen sie wieder.
He, schaut, was ich kann, dachte sie.
Aber sie behelligte die beiden schmutzigen Jungs in dem Loch nicht damit. Sie schaute sich um und versuchte, sich abzulenken.
Komisch, es schien weder Tag noch Nacht zu sein. Vielleicht war eine Mondfinsternis. Es war zu dämmrig für den Tag, aber viel zu hell für die Nacht. Sie konnte die Blätter an den Ahornbäumen erkennen und das graue Spanische Moos, das von den Eichen herabhing. Kleine Motten flatterten um das Moos herum und sie sah ihre bleichen, durchsichtigen Flügel.
Als sie zum Himmel schaute, bekam sie einen Schreck. Etwas trieb dort vor sich hin, ein riesiges, rundes Ding, das in silbernem Glanz erstrahlte. Poppy dachte an UFOs, an Außerirdische, bis sie die Wahrheit erkannte.
Es war der Mond. Ein ganz normaler Vollmond. Und der Grund, warum er so groß und leuchtend aussah, lag
darin, dass sie jetzt die Fähigkeit der Nachtsicht besaß. Deshalb konnte sie auch die Motten so genau sehen.
Alle ihre Sinne waren geschärft. Köstliche Düfte umwehten sie, die Gerüche kleiner Tiere, die im Erdreich gruben, und die von flatternden, winzigen Vögeln. Ein Windhauch wehte ihr die quälend verlockende Witterung eines Kaninchens zu.
Und sie konnte Dinge hören. Einmal fuhr ihr Kopf herum, weil direkt neben ihr ein Hund bellte. Aber dann merkte sie, dass es weit draußen vor dem Friedhof gewesen war. Es hatte sich nur so nah angehört.
Ich wette, dass ich ganz schnell laufen kann, dachte sie. Ihre Beine prickelten. Sie wollte hinaus in die liebliche, wunderbar riechende Nacht rennen, um eins mit ihr zu werden. Sie war jetzt ein Teil davon.
James, sagte sie. Und das Seltsame war, dass sie den Namen nicht laut auszusprechen brauchte. Es war ein Talent, das sie beherrschte, ohne groß darüber nachdenken zu müssen.
James sah von seiner Schaufel hoch. Halte noch ein bisschen durch, antwortete er auf die gleiche Art. Wir sind fast fertig.
Dann wirst du mich lehren, wie
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