Nightschool. Du darfst keinem trauen
Kaschmir-Überwurf von einem der Ledersessel und verstopfte damit den Türschlitz.
Dann schaltete er eine kleine Tischlampe an. Das Klickgeräusch schien durch die ganze Schule zu hallen. Sie standen nun neben Isabelles Schreibtisch und sahen sich in ihrem Büro um: An der Wand hing ein Gobelin mit Einhorn, auf dem Boden lagen dicke Orientläufer, die Regale waren mit Büchern und Zeitschriften vollgestopft, und die zahlreichen Mahagonischränke ordentlich aufgeräumt. Auf dem Tisch stand, inmitten von Papierstapeln, eine leere Teetasse mit dem Cimmeria-Wappen. Die Luft roch schwach nach Isabelles unverwechselbarem Zitrusduft.
»Ich komme mir vor wie ein Verbrecher«, wisperte Allie in einem plötzlichen Anflug von Verunsicherung.
»Was du nicht sagst«, erwiderte Carter. »Aber jetzt gibt es kein Zurück mehr, also bringen wir’s hinter uns.«
Sie wusste, dass er recht hatte. Zum Umkehren war es jetzt zu spät.
»Wo sollen wir anfangen?«, fragte sie eigentlich mehr sich selbst, doch Carter antwortete sofort.
»Ich übernehme die Bücherregale. Du fängst mit den Schränken an.«
Die folgende halbe Stunde arbeiteten sie schnell und still. Carter begann auf der linken Seite des Zimmers und arbeitete sich von Regal zu Regal vor, auf der Suche nach allem, das ungewöhnlich schien. Allie saß auf dem Fußboden und sah die Unterschränke durch.
Im ersten Schrank fand sich hauptsächlich Verwaltungskram: Handwerker- und Telefonrechnungen sowie Quittungen – nichts von Interesse. Der zweite enthielt Schulberichte, Klausuren und Hausarbeiten älteren Datums.
Als Allie den dritten Schrank öffnete, wusste sie sofort, dass sie fündig werden würde.
»Bingo«, flüsterte sie.
Carter schaute auf. »Was ist?«
»Die Schülerakten.«
Er unterbrach seine Suche und kam zu ihr. Allie schaute den Buchstaben J durch, wo sich Ruths Akte befinden musste, und stutzte.
»Die Akte fehlt.«
Carter sah sie erstaunt an. »Die muss aber da sein. Schau noch mal nach.«
»Janson«, murmelte Allie leise. »J-a-n-s-o-n. Nein. Sie fehlt.«
»Vielleicht ist sie nicht an der richtigen Stelle oder so«, warf er ein. »Fang noch mal ganz vorn an.«
Ungeduldig ging Allie die säuberlich beschrifteten Aktenmappen durch, erkannte vertraute Namen und solche, von denen sie noch nie gehört hatte, bis sie an einem hängen blieb.
»Gefunden?«, fragte Carter.
»Nein, … das ist meine.«
Ihre Fingerspitze ruhte auf einer dicken Mappe, auf die mit kräftiger schwarzer Tinte ihr Name geschrieben war.
»Hol sie raus.«
Sie hörte die Anspannung in seiner Stimme.
»Meinst du?«, fragte sie.
»Zwei Dinge, weißt du noch?«, sagte er. »Zwei Dinge wollten wir herausfinden.«
Widerstrebend legte sie ihre Akte beiseite und ging dann die übrigen durch. Als sie bei »Carter West« angelangt war, hielt sie inne.
»Willst du deine?«
Er schüttelte den Kopf und sagte kurz angebunden: »Ich weiß, was da drinsteht.«
»Okay.« Allie sah die letzten Akten durch. »Die von Ruth fehlt tatsächlich.«
»Sie muss entfernt worden sein.« Carter ging zu Isabelles Schreibtisch. »Vielleicht liegt sie ja hier – ich seh mal nach. Schau du dir inzwischen deine Akte an.«
Allie setzte sich auf den Fußboden und starrte auf den nichtssagenden Aktendeckel. Ihre Finger waren bereit, ihn aufzuklappen, doch jetzt, da der Moment gekommen war, bekam sie es mit der Angst zu tun.
Will ich die Wahrheit wirklich wissen?
Sie hörte, wie Carter Papiere durchwühlte und Schubladen öffnete. Er kam schnell voran – viel Zeit hatte sie also nicht.
Sie öffnete die Akte.
Die ersten Seiten waren keine Überraschung: Anmeldeformulare mit den üblichen Angaben, Abschriften aus ihren letzten beiden Schulen. Als sie ihre alten Noten sah, zuckte sie zusammen und blätterte rasch weiter.
Dann wurde es schon interessanter. Eine Kopie ihrer Geburtsurkunde. Fotos von ihr als kleinem Mädchen mit ihren Eltern. Ein Foto mit ihr als Kleinkind und einer Frau, die sie nicht kannte, wie sie beide in die Kamera lachten.
Als Nächstes kam ein Brief in der Handschrift ihrer Mutter, der an Isabelle adressiert war. Er traf Allie mitten ins Herz. Sie hielt ihn ins Licht, um besser lesen zu können. Plötzlich stockte ihr der Atem. Einzelne Wörter und Sätze sprangen sie an.
»Wir brauchen deine Hilfe, Izzy.« »… wir wissen nicht mehr, was wir tun sollen.« »Christopher könnte rekrutiert worden sein …« »Wir möchten Lucinda nicht einschalten, doch wir denken, die
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