Nightshifted
den Patienten auf Y4 auf die eine oder andere Weise vollkommen
ausgeblutet.
Einer dieser Punkte waren die Abgründe der
Unmenschlichkeit des Menschen gegenüber seinem Nächsten â oder seiner Nächsten
oder Kinder â oder sogar Vampir gegen Vampir. Eben die wurde auf diesen Wänden
in einem grauenhaften Ausmaà dokumentiert. Sollte ich jemals etwas Derartiges
sehen und in meinem Innersten nicht reagieren â dann hätte das County gewonnen.
Anna schlich durch den Raum, vermied es aber, an die
Wände zu sehen. Sie trat die Boxen mit den Akten um, sodass dicke Fotobündel
auf dem Boden landeten, und stampfte dann über sie hinweg, ohne den Blick zu
senken. SchlieÃlich drehte sie sich zu mir um.
»Geh, damit ich diesen Ort verbrennen kann.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Verbrennen!«, beharrte sie.
»Das kannst du nicht tun â in diesem Gebäude leben
auch noch andere Menschen.«
»Es soll bis auf die Grundmauern abbrennen!«, schrie
sie. »Lass ihr Blut ein Opfer zum Gedenken an Yuri sein!«
Ich hatte sie nur auf meine persönliche Sicherheit
eingeschworen. Jetzt wurde mir klar, dass ich ihr Versprechen auf alle Bewohner
innerhalb der Bezirksgrenzen hätte ausdehnen sollen. Was genau war sie? Was
hatte ich unabsichtlich auf die Welt losgelassen, als ich sie befreit hatte?
»Anna, bitte â¦Â« Ich wollte sie an der Schulter
packen, bevor sie irgendetwas Dummes tun konnte. Unter meiner Berührung
wirbelte sie herum und fesselte mich mit ihren glühenden Augen. In meinem Geist
züngelten Flammen auf, heiÃe, hohe Flammen. »Hör auf damit, Anna.«
Aber sie hörte nicht. Die Hitze wurde immer
durchdringender. Doch anstatt dafür zu sorgen, dass ich davor wie ein Reh vor
einem Waldbrand fliehen wollte, forderte sie, dass ich mich den Flammen
zuwandte und ihr half. Wo fand ich Benzin? Wo Streichhölzer? Dieser Ort wäre so
viel besser, wenn er vollkommen abbrennen würde, verödet wie ein Krebsgeschwür.
Mehr als jeder andere Ort musste dieser herausgeschnitten werden â und ich war
Krankenschwester, ich kannte mich mit Ausschneidungen aus. Die Flammen
flackerten in meinem Geist wie eine aufziehende Migräne, als ihr Wille sich wie
ein Vorschlaghammer in mein Gehirn grub.
»Hör auf!« Ich presste die Hände an meine Schläfen,
sodass die Hemden in einem Haufen zu meinen FüÃen landeten. »Hör sofort auf! Du
hast es versprochen!«
Der Drang etwas zu verbrennen lieà nach, verschwand
aber nicht vollständig. »Pass auf, wir werden der Polizei davon berichten. Und
dann werden die sich darum kümmern. Hier gibt es jede Menge Beweise, damit
können sie die Schuldigen verhaften.«
Sie trat gegen einen Stapel Fotos, die daraufhin wild
durch die Luft flatterten. »Sollen sie die Diener verhaften? Und was ist mit
den vollwertigen Vampiren? Was können eure menschlichen Gerichte schon
bewirken, wenn sie nicht einmal in der Lage waren, mich zu retten?«, fauchte
sie. Sie atmete schwer. Soweit ich wusste, mussten Vampire gar nicht atmen.
Aber wenn sie hätte pusten und pusten können, bis alle Mädchen von der Wand
gefallen wären, hätte sie es wohl getan. Mit weit ausgebreiteten Armen drehte
sie sich im Kreis und umfasste so den ganzen Raum.
»Warum ⦠warum hat er sie gerettet, und nicht mich?«,
heulte sie und zeigte auf die Wände. Und dann fiel sie mitten im Raum auf alle
viere und zerdrückte die Fotos auf dem Boden mit ihren Knien und ihren
verkrampften Fäusten. All die anderen verlorenen kleinen Mädchen starrten auf
sie herab, auf das letzte kleine Mädchen, das gefunden wurde.
Ich sank neben ihr auf die Knie. »Er hat es versucht,
Anna. Er hat ständig an dich gedacht, dein Name war das Letzte, was er auf dem
Totenbett sagte.«
Sie packte eines der Hemden, die ich wieder
aufgesammelt hatte, und rieb sich mit einem Ãrmel wild über die Augen. »Er
hätte mich finden sollen! Nicht du â er!«
»Ich weiÃ.« Vorsichtig streckte ich eine Hand aus.
Wäre sie ein Mensch gewesen, hätte ich sie in diesem Moment in die Arme
geschlossen, aber ich hatte Angst davor. Doch dann stieà sie ein
herzzerreiÃendes Schluchzen aus. Ich hatte auch schon solche Töne von mir
gegeben, ich wusste aus tiefstem Herzen, wie sich das anfühlte und was sie
bedeuteten. Also lieà ich die Hemden fallen und
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