Nightside 9 - Wieder einmal Weltenbrand
denken lassen, sie hätten die Oberhand, oder man wird von ihnen einfach plattgewalzt. Suzie sah ebenfalls unbeeindruckt aus, aber das tut sie ohnehin immer. Graf Video entdeckte die Schrotflinte in dem Halfter auf Suzies Rücken und bewegte sich unbehaglich.
„Halt. Ich dachte, wir hätten uns geeinigt – keine Waffen bei unseren Treffen.“
„Falls du versuchen willst, ihr die Flinte abzunehmen, viel Glück“, gurrte Annie amüsiert.
Natürlich musste dann jeder an dem Tisch mit seiner Meinung zu dem Thema herausplatzen, und ich nutzte die Gelegenheit, meine chaotischen Gedanken zu ordnen. Es machte keinen Unterschied, ob diese Gruppe in der Zukunft eine besondere Rolle spielte; ich musste mich um das Hier und Jetzt kümmern. Also … Julien Advent, den ich schon lange kannte. Wir hatten bei verschiedenen Fällen zusammengearbeitet. Julien war ein guter, ehrlicher und hochanständiger Mann, was bedeutete, er mochte mich nicht. Oder hieß zumindest meine Methoden nicht gut. Er war ein viel zu unschuldiger Mann für die Nightside. Er blieb wohl nur, weil er noch nie einem Kampf ausgewichen war. Wie immer war er in die eleganteste viktorianische Mode gekleidet, komplett in strenges Schwarz und Weiß, der einzige Farbtupfer war die aprikosenfarbene Krawatte um seine Kehle, die eine verschnörkelte Silbernadel an Ort und Stelle hielt, die ihm angeblich Königin Viktoria persönlich verliehen hatte. Er wirkte wie ein gutaussehender Mann Mitte dreißig, und das hatte sich jetzt seit einigen Jahrzehnten nicht geändert.
Jessica Sorrows Erscheinungsbild hingegen war um einiges verstörender. Man nannte sie die Ungläubige, da sie viele Jahre geglaubt hatte, außer ihr sei nichts real, und das mit so einer Inbrunst, dass, wenn etwas oder jemand ihre Aufmerksamkeit erregte … sie dermaßen stark nicht daran glaubte, bis es aufhörte zu existieren. Eine wirklich furchteinflößende, gefährliche Persönlichkeit, bis ich geholfen hatte, sie zu entschärfen. Sie hatte immer noch eine starke Präsenz, eine Art Anticharisma, das zugleich faszinierte und verstörte. Sie war kaum größer als eins fünfzig und saß auf ihren Stuhl gekauert wie ein Kind aus der Wildnis, schrecklich ausgemergelt und bleich. Ihre Augen stachen sehr groß aus ihrem Gesicht heraus, ihr zarter Mund war wenig mehr als ein Schlitz. Sie trug eine bräunliche Lederjacke, die schon bessere Zeiten gesehen hatte, und Leggins, das Jackett hing offen an ihr herab und gab den Blick auf eine nackte, eingefallene Brust frei, an die sie fest den Teddybären presste, den ich für sie gefunden hatte. Der einzige Freund aus ihrer Kindheit, ja vielleicht der einzige Freund, den sie je gehabt hatte, hatte ihr dabei geholfen, sich in der Realität zu verankern. Als ich den wilden, irritierend leeren Blick ihrer geheimnisvollen Augen sah, hätte ich kaum mein Geld auf ihre geistige Stabilität verwettet, aber allein der Fakt, dass sie hier war und mit Leuten interagierte, war ein gutes Zeichen. Sie legte jäh den Kopf zur Seite, sah mich an und erkannte mich. Für einen kurzen Augenblick war ihr Ausdruck fast menschlich. Sie lächelte flüchtig. Ihre Augen blinzelten nicht einmal annähernd oft genug.
Annie Abattoir war für das Auge leichter zu ertragen. Annie, eine reife, kurvige Frau Mitte vierzig, war eine vollendete Verführerin und Herzensbrecherin und darüber hinaus noch viele Dinge, von denen die meisten wohl nicht vor einer höflichen Gesellschaft erwähnt werden sollten. Sie war um die eins neunzig, breitschultrig und eindrucksvoll, hatte ein scharf geschnittenes, sinnliches Gesicht und trug eine rubinrote Abendrobe, die vorn und hinten verwegen weit ausgeschnitten war und die hervorragend mit ihrer Mähne kupferroten Haares harmonierte. Sie war schön, sexy und ohne die geringste Anstrengung einfach bezaubernd, und das wusste sie. Sie trug lange weiße Abendhandschuhe; wahrscheinlich, um zu verbergen, wie viel Blut an ihren Händen klebte.
Graf Video war ein dicker Fisch, wenn er sich zusammenriss, ein alter Gegenspieler von mir und ein echter Schmerz im Arsch. Er war groß und steif und trug einen vornehmen Anzug ohne jegliche Eleganz und noch viel weniger Haltung. Ich sah die Klammern und Nähte an seinem Hals und in seinem Gesicht, Andenken an den Engelskrieg, als man ihm die Haut heruntergerissen und nachher wieder angebracht hatte. Seine Haut legte sich schorfig um seltsame Silikonbuchsen und implantierte Zauberschaltkreise, die seiner
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