Nightside 9 - Wieder einmal Weltenbrand
MacReady hatte ihm ziemlich zugesetzt, wessen Gott der größere war, aber es schien keinerlei Auswirkungen auf ihn zu haben. Es gibt eine Sache, die ich während all der Jahre, die ich nun die Nightside durchstreifte, herausgefunden hatte. Es gab immer Mittel und Wege, um Antworten zu erhalten, wenn man wusste, wo man suchen musste … aber sie führen unausweichlich zu noch mehr Fragen.
Sharon öffnete die Tür für uns, und Chandra und ich traten abermals in die Nacht hinaus. Ich sah mich um, um eine gute Nacht zu wünschen, und Sharon lächelte mich durch den sich schließenden Türspalt an. Für einen Augenblick erhaschte ich einen Blick auf ihr verborgenes Ich, die Leibwächterin der Vikarin – ein kurzes Aufblitzen von riesigen Zähnen und scharfen Klauen, von etwas Verdorbenem und Bösartigen. Nur ein Aufblitzen, dann war es vergangen und Sharon Pilkington-Smythe lächelte zum Abschied und schloss die Tür. Ich fragte mich, ob Tamsin MacReady das wusste. Höchstwahrscheinlich schon. Ich blickte Chandra an.
„Haben Sie das gesehen?“
„Was?“
„Schon gut.“
Ich nahm mir einen Augenblick Zeit, um meinen Trenchcoat sorgsam zu durchsuchen, nur für den Fall, dass Sharon eine Wanze, einen Peilsender oder eine andere Überraschung hineingeschummelt hatte. Man konnte bei den wahrhaft Rechtschaffenen nie zu sehr auf der Hut sein – da es ihnen ihr Glaube immer erlaubt, sämtliche schmutzigen Tricks irgendwie zu rechtfertigen. Ich fand eine Handvoll kleiner, silberner Kruzifixe, die über mehrere Taschen verstreut waren. Sie sahen nicht so aus, als seien sie irgendetwas anderes als stinknormal, aber ich warf sie sicherheitshalber trotzdem weg. Was ist nur aus dieser Welt geworden, wenn man nicht mal mehr der abtrünnigen Vikarin und ihrer dämonischen Geliebten trauen kann?
Eine Bewegung etwas weiter die Straße hinunter sprang mir ins Auge und ich sah mich aufmerksam um. Aus den Schatten löste sich Annie Abattoir, die ruhig und gelassen in voller Lebensgröße und mit zweimal so viel Glamour in die Nacht hinaus spazierte. Sie trug eine edle violette Abendrobe mit ellbogenlangen Handschuhen, hochhackigen Schuhen und ausreichend Schmuck, um eine Pfandleihe bis unters Dach zu füllen. Nicht, dass ihr jemand deswegen Schwierigkeiten bereitet hätte – nicht einmal in diesem Teil der Stadt. Sie war Annie Abattoir. Sie stöckelte auf mich zu und ich nickte respektvoll.
„Hallo Annie. Haben Sie in der letzten Zeit jemand Interessanten verführt und ermordet?“
„Niemanden, den Sie kennen würden“, antwortete Annie.
„Was macht eine Edelnutte, Profimeuchelmörderin und echt gefährliche Person wie Sie in dieser abgerissenen Gegend?“
„Ich bin hier, um die abtrünnige Vikarin zu besuchen.“
Ich hob eine Augenbraue, und Annie warf mir einen vernichtenden Blick zu.
„Was ist?“, fragte sie. „Darf eine Mutter nicht ihre Tochter besuchen?“
Sie klopfte und Sharon öffnete die Tür des Pfarrhauses. Gedankenversunken betrachtete ich die sich schließende Tür. Ich hatte nicht gewusst, dass Annie eine Familie hatte. Ich hatte gedacht, sie hätte alle getötet. So, so, die gefährlichste Meuchelmörderin der Nightside hatte also eine Vikarin zur Tochter. Man kam nicht umhin, sich zu fragen, wer von den beiden wohl das schwarze Schaf war …
***
Chandra Singh und ich gingen vom Pfarrhaus nach St. Judas. Es war nicht weit. Der Standort der Kirche war seit dem Lilithkrieg schwer festzumachen, da man das Gebäude kaum zweimal am selben Ort fand. Man musste schon extrem verzweifelt nach ihm suchen. Dann erhob es sich direkt vor der Nase des Suchenden. Oder auch nicht. Es soll auch überhaupt nicht einfach zu finden sein. Wie auch immer, die Kirche des heiligen Judas hatte schon immer die zwielichtigsten und am schwersten zugänglichen Teile der Nightside bevorzugt. Es schien, als habe ich die Kirche dringend finden müssen, denn schon nach einigen Minuten Fußmarsch ragte sie vor uns in den Nachthimmel. An einem Ort, wo sich die Kirche mit größter Sicherheit noch nie hatte sehen lassen.
Sankt Judas ist die einzig wahre Kirche in der Nightside und sie würde sich nur über ihre eigene Leiche auch nur in der Nähe der Straße der Götter zeigen. Sie war ein einfaches Steingebäude, das ziemlich sicher weit älter war als das Christentum. Hier gab es keinen Schmuck, keine Riten und keine Messen. Man kommt nach Sankt Judas nicht, um zu beten oder Einkehr und Trost zu finden. Es handelt sich um einen
Weitere Kostenlose Bücher