Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
Vom Netzwerk:
du stellst ja Fragen«, sagte er. Er wirkte milde, fast unterwürfig dabei. Und überhaupt nicht betrunken. Warum, fragte ich mich, ist er nach dem halben Bierglas mit Schnaps nicht mal angetrunken?
    Als hätte er meinen Gedanken erraten, sagte er: »Dit Komische is: Ick werd’ nur besoffen, wenn ick besoffen werden will . Kapierste dit?«
    »Nein«, antwortete ich, »kapier ich nicht. Wie kommt das?«
    »Dit jibt zum Beispiel ooch Menschen«, fuhr er fort, »die wollen nich sterben. Und da sie nich sterben wollen, sterben sie ooch nich. Dit soll erstmal eener kapieren. Is natürlich ooch möglich, die haben irgendwat jenomm’, dass sie nich sterben. Oder die haben die Jahre jekriegt von eenem, der früh jestorben is. Reiners Mutter zum Beispiel, die keene vierzig jeworden is. Die hat die Jahre an ihre Mutter jejeben. Und deshalb stirbt dienich. Aber dauernd ruft sie nach ’m Reiner. Dass sie nich mehr alleene klarkommt und Hilfe braucht. Aber in ’t Heim will sie nich, die alte Hexe. Und der Reiner immer hin zu ihr. Saubermachen, einkoofen. Als ob’s hier nischt zu tun jäbe. Und wer weeß, über wat die da reden. Wat die da ausbrüten. Und jetzt is er schon seit vierzehn Tagen weg. Der kann sich uff wat jefasst machen.«
    Nilowsky war also bei seiner Großmutter. Ich sagte nichts dazu. Als würde alles, was ich dazu sagte, nur bedeuten, dass ich doch etwas wusste, zumindest eine Ahnung hatte.
    »Willste mir ’n bisschen helfen?«, fragte der Alte. »Hier inne Kneipe? Soll ooch nich dein Schaden sein. Kannste mir glooben. Also, wat is? Hilfste mir? Hilf mir mal.«
    Noch nie hatte jemand etwas zu mir gesagt, das so sehr nach Bitte und zugleich nach Befehl klang. »Ja«, antwortete ich, verblüfft wie ich war. Und kaum hatte ich es gesagt, wusste ich nicht, wie ich dieses Ja hätte zurücknehmen können.
    »Kommste gleich morgen«, sagte Nilowskys Vater und strahlte stolz. Nie wieder sollte ich ihn so strahlen sehen. Und nie wieder sollte er so nüchtern wirken wie nach diesem halben Bierglas voll Meldekorn.

9
    Nur ein Mal, sagte ich mir, nur ein einziges Mal werde ich ihm helfen. Denn auf gar keinen Fall wollte ich, dass Nilowsky, wenn er wieder auftauchte, mich bei seinem Vater sah. Nur ein Mal und nicht länger als eine Stunde. Mit diesem Vorsatz ging ich am nächsten Tag gleich nach der Schule ins Bahndamm-Eck .
    Kaum hatte ich die Kneipe betreten, kam der Alte hinterm Tresen hervor. Diesmal wankte er dermaßen, dass er sich auf dem Weg zu mir für zwei, drei Sekunden an einem Stuhl festhalten musste. »So früh schon?«, sagte er und reichte mir seine nasse Hand.
    So früh schon?, hätte auch ich sagen können, aber wahrscheinlich, dachte ich, wollte er diesmal, warum auch immer, betrunken sein.
    »Was kann ich helfen?«, fragte ich in einem Ton, der sofort klarmachen sollte, dass ich wenig Zeit hatte.
    »Na, setz dir erstmal hin. Willste ’ne Brause?«
    »Nein, danke.«
    Der Alte zapfte mir trotzdem eine Brause. Dann forderte er mich auf, sie vom Tresen abzuholen. »Oder willste, dass ick mir uff de Fresse packe?«
    »Nein«, antwortete ich, nahm mir die Brause vom Tresen, und Nilowskys Vater sagte: »Mir is heut nich jut. Siehste ja. Könntest mal ’ne Kiste Goldbrand aus ’m Keller holen. Der jeht immer weg wie nischt.«
    Er deutete mit dem Kopf zu einer Bodenluke. Als ich sie öffnete und die Stiege sah, die steil nach unten führte, wusste ich, dass der Alte in seinem Zustand nie und nimmer hier runterkommen würde. Vorsichtig stieg ich in den Keller hinab und mit einer Kiste Goldbrand unterm Arm wieder hinauf.
    »Na, bist ooch nich mehr der Jüngste, wa«, empfing mich Nilowskys Vater geradezu fröhlich. Er holte fünf Markstücke aus seiner Hosentasche und reichte sie mir. »Hier, mit Jefahrenzulage.«
    Fünf Mark, das kam mir sehr viel vor. Zu viel. »Nu steck schon weg, bevor ick mir’s anders überlege«, befahl er. Um seinen Unmut nicht hervorzurufen, nahm ich das Geld und ließ es schnell in meiner Hosentasche verschwinden.
    Dann bat er mich, den Kneipenraum zu fegen und die Sprelacarttische abzuwischen. Dafür gab er mir noch einmal fünf Markstücke. Ich fragte mich, ob er mit dieser Bezahlung irgendetwas bezweckte. Vielleicht, ging es mir durch den Kopf, will er mich als duldsamen Zuhörer für irgendwelche Geschichten über seine gestorbene Frau oder deren Mutter, die nicht starb, weil sie nicht sterben wollte. Das hätte mich sogar interessiert. Aber der Alte sagte nichts über die

Weitere Kostenlose Bücher