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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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zweihundert Meter rannte ich, bis ich bei Nilowsky auf den Gleisen war.
    »Hallo«, sagte ich außer Atem. Und er, ohne mich anzusehen: »Der Zug ist ausgefallen, der Vierneununddreißiger. Kann mich nicht erinnern, dass der jemals ausgefallen ist, der Vierneununddreißiger.«
    Er sagte es, als sei ich gekommen, weil mich genau das und nichts anderes interessierte. Er ging die Gleise entlang, in die Richtung, die vom Bahndamm-Eck wegführte, und ich war froh, dass er nicht hinkte, nicht ein bisschen. Auch sonst deutete nichts darauf hin, dass sein Vater ihn verprügelt hätte.
    »Ich hab dir«, stotterte ich, »ich hab dir das Geld mitgebracht. Das von deinem Vater, das Geld, das er mir gegeben hat, weil ich ihm helfen musste …«
    »Hör auf!«, unterbrach mich Nilowsky, ohne stehen zu bleiben. »Du musstest ihm helfen? Dass ich nicht lache. Du hast ihm geholfen, um das Geld von ihm zu bekommen, deshalb hast du ihm geholfen …«
    »Nein«, fiel ich ihm ins Wort. »Das stimmt nicht, wirklich nicht. Er hat mich gefragt, und ich traute mich nicht, Nein zu sagen, traute ich mich nicht. So war’s, ich schwör’s dir, traute mich nicht.«
    Er blieb stehen, drehte sich langsam um und schaute mich an, direkt in die Augen, und sagte: »Na gut, deine Worte sind glaubhaft. So wie du es sagst, sind sie glaubhaft, deine Worte.«
    »Wir können’s auf die Schienen legen«, fuhr ich fort, »können wir, das Geld, hier auf die Schienen, fünfundzwanzig Mark, alles auf die Schienen. Ist dann unser Schatz, die plattgefahrenen Groschen.«
    Er lächelte, dankbar für meinen Vorschlag. »Nein«, meinte er. »Wir spenden es. Für die Revolution in Mozambique, für die spenden wir es. Wir treffen uns mit Roberto und spenden es.«
    Er ging weiter an den Gleisen entlang und ich ihm nach. Die Ein- und Zweimarkstücke steckte ich in meine Hosentaschen und folgte Nilowsky die Böschung hinunter. Als wir unten waren, kam er dicht an mich heran und sagte leise und eindringlich: »Meine Großmutter, die kann nicht mehr, die kann nicht mehr leben, aber sterben kann sie auch nicht. Solange er noch lebt, kann sie nicht sterben, das kann sie nicht. Du hast es gehört, wie ich’s ihm gesagt hab, du und die Arbeiteraus ’m Chemiewerk, ihr habt’s gehört, wie ich’s ihm gesagt hab, zum ersten Mal hab ich’s ihm gesagt. Und deshalb hat er mich nicht verprügelt. Weil ich’s ihm gesagt hab, zum ersten Mal. Komm, wir müssen weiter.«
    Wir gingen schweigend, ich an seiner Seite. Vielleicht, dachte ich, sind wir schon auf dem Weg zu Roberto, um die Sache mit der Spende nicht auf die lange Bank zu schieben. Oder zu Wally, die der Mozambiquaner-Baracke fernblieb, damit ihr Nilowskys Vater nicht auflauerte. Oder wenigstens zu Elli mit den geklauten Gewürzen aus dem KaDeWe. Oder, dachte ich, während wir uns immer weiter vom Bahndamm-Eck entfernten, vielleicht sogar zur Großmutter in ihrer schrecklichen Qual, nicht leben und nicht sterben zu können. Oder: zu Carola, seiner zukünftigen Braut, die ich noch nie gesehen hatte. Carola interessierte mich von allen am meisten, am allermeisten.
    Nilowsky hatte kein Ziel. Wir liefen in einem großen Bogen um das Chemiewerk herum, und irgendwann brach er das Schweigen und sagte: »Weißt du eigentlich, was Lenin, Wladimir Iljitsch Lenin, zur revolutionären Situation gesagt hat?«
    Sicherlich hatte ich davon schon mal im Staatsbürgerkundeunterricht gehört, doch ich hatte mir nichts gemerkt. Ich hasste den Staatsbürgerkundeunterricht mit dem Auswendiglernen und den in alle Ewigkeit festgestanzten Wahrheiten. »Lenin«, fuhr Nilowsky fort, »sagt, dass eine gesellschaftliche Situation revolutionär ist, sagt er, wenn es für die herrschenden Klassen unmöglich ist, ihre Herrschaft unverändert aufrechtzuerhalten. Das ist unmöglich, weil sich Not undElend der unterdrückten Klassen verschärfen. Unmöglich ist das. So sagt er das. Verstehst du, wie Lenin das meint?«
    Ich vermutete, er würde nun auf Mozambique zu sprechen kommen. Aber ehe ich antworten konnte, stellte er fest: »Na gut, verstehst du nicht. Ist ja nicht schlimm, dass du’s nicht verstehst. Lenin sagt: Damit es zur Revolution kommt, genügt es normalerweise nicht, dass die unteren Schichten in der bisherigen Weise nicht mehr leben wollen ; es ist wichtig, damit es zur Revolution kommt, sagt Lenin, dass die oberen Schichten in der bisherigen Weise nicht mehr leben können . Na, was sagst du nun?«
    Er war stehengeblieben und schaute mich

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