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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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dass ich es wollte, musste ich schadenfroh grinsen. Der Alte sagte: »Siehste, jetzt freuste dir schon uff den Abend. Also, ’n bisschen kannste noch bleiben.«
    Na gut, sagte ich mir, den einen Abend, aber nicht mehr. Ich trank die Brause, dann stellte ich Aschenbecher auf die Tische. Schon kamen die ersten Arbeiter aus dem Chemiewerk. Sieben waren es – unter ihnen die drei, die ich bereits kannte –, und sie brachten diesen Geruch von Schwefelwasserstoff mit, an den ich mich schon derart gewöhnt hatte, dass ich ihn kaum mehr bemerkte. Doch in der Konzentration, wie ihn die Männer an sich trugen, nahm ich ihn wieder so eindringlich wahr wie am ersten Tag. »Doppelten Goldi, großet Bier zum Nachspülen«, rief einer sogleich in Richtung Tresen. »Damit mal wieder ’n anderer Geschmack inne Speiseröhre kommt.«
    »Ick weiß, wat ick dir zu bringen hab«, entgegnete Nilowskys Vater genervt. Und zu mir: »Der säuft schonseit Jahren die Kombination, aber daran kann er sich wahrscheinlich nich mehr erinnern.«
    »Halt’s Maul, sonst gehen wir woandershin«, rief ein anderer. Einer der Skatspieler. »Oder meinste, woanders gibt’s nüscht zu trinken?«
    »Wohin denn, ihr Wichser?«, konterte Nilowskys Vater, während er Biere für die Männer zu zapfen begann. »Ihr findet doch nirgendwo sonst hin. Und wenn ihr abjefüllt seid, findet ihr ja kaum noch nach Hause.« Und zu mir sagte er: »Schenk mal Goldi ein. Für alle ditselbe.«
    Ich nahm sieben Schnapsgläser und eine Flasche Goldbrand aus dem Regal hinterm Tresen, goss jeweils vier Zentiliter ein und brachte die Gläser den Männern.
    »Biste sein neuer Sohn?«, fragte der, der sich den anderen Geschmack in der Speiseröhre wünschte. Ich spürte, wie ich sofort errötete, und der, der woanders saufen wollte, rief Nilowskys Vater zu: »Is dit dein neuer Sohn?«
    Der Alte wurde puterrot im Gesicht.
    »Halt die Fresse, du Drecksack«, presste er hervor.
    Sein Hass erschreckte mich. Nur weg hier, dachte ich. In diesem Moment öffnete sich die Kneipentür, und Nilowsky kam herein. Er musste mich bereits durchs Fenster gesehen haben, denn er beachtete mich mit keinem Blick. Kerzengerade stand er da, Hände in den Hosentaschen, und lächelte die Arbeiter an, die vor Staunen ganz still waren.
    »Na, hat dir deine Großmutter wieder wegjelassen?«, fragte Nilowskys Vater. Er versuchte ein Grinsen, doch es gelang ihm nicht. Wieder rieb er sich den Adamsapfel. »Ick hoffe, die macht nich mehr lange, die alte Hexe.«
    Kein Laut kam von den Arbeitern, von Nilowsky, von mir. Ich rechnete damit, dass Nilowskys Vater den Feuerhaken unterm Tresen hervorholen würde, um auf seinen Sohn einzuschlagen. Stattdessen kam er auf mich zu, nahm aus seiner Jackentasche drei Markstücke und drückte sie mir in die Hand.
    »Steck weg!«, sagte er. »Wer arbeitet, soll ooch Jeld verdienen. So einfach is dit. Schönen Feierabend!«
    Am liebsten hätte ich das Geld auf den Tresen geworfen oder auf den Fußboden. Am liebsten hätte ich gesagt: Ich bleibe! Aber ich brachte keinen Ton heraus. Die drei Mark hielt ich in meiner verkrampften, zitternden Faust. Wenigstens steckte ich sie nicht weg und rührte mich keinen Zentimeter.
    »Sie kann nicht sterben«, sagte Nilowsky zu seinem Vater, langsam und bedeutungsvoll sagte er es. »Solange du noch lebst, kann sie nicht sterben, solange nicht.«
    Der Alte wirkte einen Moment lang wie erstarrt. Das Blut schien aus seinem Gesicht zu weichen, so blass wie er wurde.
    »Jetzt kannst du gehen, kannst du jetzt«, sagte Nilowsky zu mir. »Mit deinem Lohn, geh jetzt. Los!«
    Er schaute mich noch immer nicht an und auch nicht, als ich dicht an ihm vorbeiging, um die Kneipe zu verlassen. Draußen holte ich tief Luft. Ich schämte mich, warf das Geld in einen Gully und eilte in den Hausflur.

10
    In der Nacht schlief ich kaum. Ich verfluchte das Geld, das ich in den Tagen von Nilowskys Vater bekommen hatte und in einem meiner abschließbaren Schreibtischfächer aufbewahrte. Fünfundzwanzig Mark. Ich überlegte, ob ich es wegwerfen sollte. Oder in der Schule für Internationale Solidarität spenden. Nein, ich musste es Reiner geben. Er hatte mich seinen Freund genannt. Von ihm als Freund durfte ich erwarten, dass er mir verzieh.
    An den nächsten Nachmittagen schaute ich immer wieder aus dem Fenster zu den Gleisen hinüber. Als ich ihn endlich an der Böschung sah, nahm ich die Ein- und Zweimarkstücke und rannte mit ihnen aus der Wohnung. Über

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