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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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gestorbene Frau und deren Mutter. Und auch seinen Sohn erwähnte er mit keinem Wort. Stattdessen fragte er: »Weißte eigentlich, wat Krieg bedeutet?« Für einen Moment sah er mich an, als würde er eine Antwort erwarten. »Ick hatte grade«, fuhr er fort, »die Kneipe von meiner Mutter übernomm’, und da kam der Krieg. So einfach war dit. Ick war stolz, dass ick die Kneipe hatte. Und meine Mutter, die war stolz uff mir. Mein Vater, der war ja im ersten Krieg jeblieben.Da hatte meine Mutter die Kneipe weitermachen müssen. Aber ick half ihr, schon als Kind hatt’ ick ihr jeholfen. Und wie sie nich mehr konnte, wie sie aus ’m Bette nich mehr rauskam, hab ick die Kneipe übernomm’. So wie ’t sich jehört in ’ner Familie. Aber kaum hatt’ ick die Kneipe übernomm’, musst’ ick in ’n Krieg. Ick war achtundzwanzig, wie ick in ’n Krieg musste. So einfach war dit. Aber wie ick zurück bin aus ’m Krieg, neunundvierzig, ja, da erst war ick zurück aus ’m Krieg, aus der russischen Jefangenschaft war ick da zurück, und meine Mutter, die lebte nich mehr, die war im Krieg jestorben, da hab ick die Kneipe weiterjemacht. Denk bloß nich, dass dit einfach war. Aber ick hab weiterjemacht. Immer weiter, immer weiter. So wie ’t sich jehört. So einfach is dit.«
    Er hatte sich, wie mir schien, fast nüchtern geredet. Ein Zug ratterte vorbei. Das Rattern war wie ein Schlussstrich unter dem, was Nilowskys Vater soeben erzählt hatte. Es war so, als sei nun alles gesagt. Er grinste und meinte: »Jetzt kannste los. Und morgen wieder um die Zeit. Allet klärchen?«
    In meinen Ohren klang das schon wieder wie eine Drohung. Aus Furcht vor irgendeiner Strafe, aber auch aus Lust auf das Absonderliche, das der Alte verkörperte, ging ich am nächsten Tag gleich nach der Schule erneut ins Bahndamm-Eck und an den zwei folgenden Tagen ebenfalls. Jedes Mal stand Nilowskys Vater hinterm Tresen, putzte langsam und gründlich Biergläser und begrüßte mich mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre ich schon seit Jahren sein Angestellter. Während ich die Arbeiten verrichtete, die er mir auftrug, und mehr Geld dafür erhielt als angemessen gewesen wäre,bekam ich immer größere Angst davor, dass Reiner auf einmal in die Kneipe kommen könnte. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und sagte, bevor er mich wieder mit seinem »Bis morgen um die Zeit« verabschieden würde: »Ich kann nicht mehr kommen. Meine Eltern verlangen, dass ich nach der Schule zu Hause bleibe und ihnen helfe.«
    Ich hatte mich bemüht, es nach Bedauern klingen zu lassen. Zugleich schämte ich mich, aus Feigheit zu lügen.
    Der Alte erwiderte nur, fast tonlos: »Ach, deine Eltern verlangen dit.« Er zündete sich eine Zigarette an, dann sagte er ernst und anerkennend: »Na, wenn dit so is, kannste wohl nich mehr kommen. Denn deine Eltern werden sich ja wat dabei denken, wenn sie verlangen, dass du ihnen hilfst. Fühlen sie sich denn eigentlich immer noch wohl hier?«
    »Ja«, antwortete ich. »Glaub ich jedenfalls.« Und Nilowskys Vater sagte: »Beneiden tu ick deinen älteren Herrn nich grade. Oder, ick will mal so sagen: Wenn ick für die Neger zuständig wär, hätt’ ick die schon sonstwohin jejagt. Is doch nur ein dreckiget, faulet Pack. Oder etwa nich?«
    Ich fragte mich, ob ich ihm zustimmen sollte, damit er sich nicht noch weiter aufregte. Aber das brachte ich nicht fertig. »Die sind nicht faul«, hörte ich mich sagen, »die ruhen sich nur für die Revolution aus.«
    »Wat machen die?« Es hörte sich an, als hätte der Alte mich nicht richtig verstanden. »Wat wollen die?« Er hustete heftig, Zigarettenrauch stob aus seinem Mund. Schließlich rieb er sich mit der flachen Hand seinen Adamsapfel und sagte: »Mein Jott, wie dit schon wiederjuckt. Aber zum Glück is dajegen ’n Kraut jewachsen.« Er ging hinter den Tresen, nahm einen Schluck aus der Meldekornflasche, und ich war froh, dass ihm meine Meinung zu den Mozambiquanern doch nicht so wichtig zu sein schien. »Weißte eigentlich«, sagte er, »dass ick mir ausjerechnet heut jewünscht hab, dass du mal länger bleibst und meine Gäste kennenlernst? Und nu willste schon so schnell abhauen.«
    Er zapfte mir eine Brause. Ich verkniff mir die Bemerkung, dass ich drei seiner Gäste bereits kennengelernt hatte. Ich erinnerte mich, wie einer der Skatspieler gesagt hatte: »Na, endlich. Wird ja Zeit, dass der wegkommt.« Und ein anderer: »Der is so besoffen, der merkt von nischt wat.« Ohne

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