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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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so erwartungsvoll an, dass ich prompt sagte: »Du könntest Staatsbürgerkundelehrer sein, so wie du redest. Ich meine«, korrigierte ich mich, »ehrliche, wahrhaftige Staatsbürgerkunde, wie es sie gar nicht gibt bei uns.«
    Nilowsky lachte: »Ja, da hast du recht, hast du da. Das wär was, Staatsbürgerkundelehrer, ehrlich und wahrhaftig, das wär was für mich. Chemie und Staatsbürgerkunde, das wär eine Kombination, eine gute Kombination wär das. Oder findest du nicht?«
    »Ja«, antwortete ich, und diese Kombination kam mir auf einmal tatsächlich so passend für ihn vor wie nur irgendetwas.
    »Pass auf«, sagte Nilowsky, »wir gehen zu Roberto, jetzt gehen wir zu ihm. Was du heute kannst besorgen, verschiebe nicht auf morgen. Kennst du nicht das Sprichwort?«
    »Der arbeitet aber noch«, wandte ich ein, doch Nilowskyhatte schon die Richtung zum Chemiewerk eingeschlagen.
    »Ja«, bestätigte er, »der arbeitet noch. Wenn er nicht grad Pause macht, revolutionäre Pause, wenn du verstehst, was ich meine.«
    »Ja«, sagte ich und fragte mich, wie wir ins Chemiewerk hineinkommen wollten. Aber auch darauf hatte Nilowsky, ohne dass ich die Frage stellte, eine Antwort: »Ich hab vorgesorgt, mit Roberto hab ich vorgesorgt. Wir haben unsere Schlupflöcher. Aber du musst dichthalten. Ist das klar, dass du dichthältst?«
    Das Schlupfloch verbarg sich unter einer Holzklappe, von der Nilowsky den Sand wegwischte, bevor er sie öffnete. »Na los!«, forderte er mich auf, und ich quetschte mich unter der stacheldrahtbewehrten Mauer hindurch. Dann folgte er mir. Wir schlugen ein paar Schleichwege ein, bis wir hinter einem Geräteschuppen auf Roberto und die beiden anderen Mozambiquaner stießen. Sie saßen nebeneinander auf einer Holzbohle und dösten vor sich hin.
    »Sieg FRELIMO, Tod den Imperialisten«, rief Nilowsky.
    Roberto schlug, stellvertretend für die beiden anderen, ein Auge auf und schmunzelte. Er war überhaupt nicht überrascht, dass wir hier auftauchten. »Setzt euch hin«, sagte er, »tut gut bisschen Ruhe.«
    »Wir müssen gleich weiter«, entgegnete Nilowsky. »Aber unser Freund, Markus Bäcker, möchte euch eine Spende überreichen.«
    Ich nahm die Ein- und Zweimarkstücke aus meinen Hosentaschen und reichte sie Roberto, der mit einer Schnelligkeit aufstand, die ich ihm gar nicht zugetrauthätte. Und mit ihm die beiden anderen. »Für die Rache an den Kolonialherren«, sagte ich, und Nilowsky schaute zu mir wie zu einem gelehrigen Schüler. Stolz auf mich und auch stolz auf sich, wie mir schien.
    »Danke vielmals«, sagte Roberto und nahm das Geld an sich. »Wir werden geben in die Kasse von FRELIMO. Gott segne euch, und auch sei Gott mit euch.«
    Diese Geldübergabe kam mir sehr würdevoll vor. Revolutionär. Aber warum Gott?, fragte ich mich.
    Wir verließen die Mozambiquaner auf Schleichwegen, an Rohrleitungen vorbei, unter ihnen hindurch, und irgendwann fragte ich: »Warum verabschiedet sich Roberto mit Gott, wenn er Revolutionär ist?«
    Nilowsky musste nicht lange überlegen. »Das ist afrikanisch, ist das. Für die Afrikaner ist Gott der größte Revolutionär, das ist Gott. Wie Lenin. Oder noch größer als Lenin. So ist das bei den Afrikanern.«
    Er blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken, sodass mir sein Adamsapfel noch größer vorkam als er ohnehin war. In diesem Moment erinnerte ich mich wieder, wie er mit mir auf dem Bahndamm stehend die nach faulen Eiern stinkende Luft tief eingeatmet und davon geredet hatte, dass man die ganze Körperwärme, über die man verfüge, zum Einsatz bringen müsse, damit dem stinkenden Schwefelwasserstoff nichts anderes übrig bliebe, als zu Wasser und zu Schwefeldioxid zu verbrennen. »Das ist gesund und gibt dir Kraft«, hatte er gesagt. Diese Kraft schien er jetzt zu haben, mehr als genug davon.
    Wir liefen zurück zum Schlupfloch und verließen das Chemiewerk. Kaum waren wir draußen, zog Nilowsky meinen Kopf an seine Brust. Ich spürte sein kräftigesEin- und Ausatmen und roch seinen Schweiß. Ich hatte den Eindruck, er wolle mir ein Verabschiedungsritual unter Revolutionären beibringen. Aber er sagte nichts, sondern schob mich von sich weg und lief eilig davon.

11
    In der daraufkommenden Nacht erwachte ich von einem knatternden Motorengeräusch, das nicht aufhören wollte. Als ich aus dem Fenster schaute, sah ich, dass dieses Geräusch zu einem Leichenwagen gehörte, der vor dem Bahndamm-Eck gehalten hatte. Neben dem Leichenwagen stand ein

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