Nilowsky
hundertprozentig wollte. Ich atmete die stinkende Luft vom Chemiewerk, die ich kaum mehr als stinkend empfand, tief ein. Dann hielt ich die Luft an, um aufdiese Weise Wärme zu erzeugen. Schließlich atmete ich aus, erst langsam und gleichmäßig, dann stoßweise, aber es half nichts, die Zunge blieb auf der Schiene kleben.
Der Siebendreizehner, schoss es mir durch den Kopf. Ich schaute auf meine Armbanduhr. Noch vier Minuten, bis der Siebendreizehner kommen würde. Ich zeigte auf die Uhr, hielt sie Nilowsky hin. »Ich weiß«, sagte er, »ich weiß.«
Mir wurde vor Angst ganz heiß, aber auch die Hitzewallung half nicht, die Zunge von der Schiene zu lösen. Nicht ein bisschen half sie. »Hilf mir, Reiner«, bat ich. »Hilf mir doch, hilf mir!«
Es war ein dumpfes Lallen, das ich von mir gab. Ich spürte, wie mir Tränen aus den Augen flossen, während Nilowsky mit gütiger Selbstsicherheit sagte: »Natürlich helfe ich dir. Was dachtest du denn? Dass ich dir etwa nicht helfe, dachtest du das?«
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er mir nicht half. Aber Angst hatte ich trotzdem. Noch drei Minuten.
Wieder schaltete er die Taschenlampe ein und richtete das Licht auf mein Gesicht. Auf einmal schmeckte ich etwas Warmes, Modrig-Bitteres, Salziges auf meiner Zunge. Reiners Urin. Ein lange währender, kräftiger Strahl, zielgenau. Langsam löste sich meine Zunge von der Schiene. Ich heulte vor Ekel und Wut und Dankbarkeit. Kaum dass die Zunge frei war, rannte ich die Böschung hinunter, stolperte, stürzte, kotzte. Kotzte so heftig, dass ich fast nicht mehr atmen konnte. Nilowsky war bei mir. Nahm mich in seine Arme. Wischte mit der flachen Hand den Schweiß von meiner Stirn, fuhr mir mit den Fingern durch die Haare. Der Siebendreizehnerschepperte an uns vorbei, und Nilowsky sagte: »Das war der Vertrauensbeweis, war das.«
Hätte das jemand anderes gesagt, hätte es zynisch geklungen. Aber bei ihm hatte es etwas Ehrliches. Etwas Naiv-Unschuldiges, das ich kaum glauben konnte und das mir deshalb wiederum Angst bereitete.
17
Die Turmfrisur meiner Mutter wurde von Tag zu Tag höher. Schließlich sagte mein Vater am Abendbrottisch: »Wenn die weiter wächst, müssen wir bald ’n Gerüst um sie herum bauen, damit sie nicht umkippt.«
»Pass mal auf, dass du nicht umkippst«, entgegnete meine Mutter etwas hilflos. Mein Vater pustete gegen die Frisur und sagte: »Noch ein paar kleine Windstöße, und wir haben hier den Schiefen Turm von Pisa.«
Im Herumalbern war er meiner Mutter eindeutig überlegen, aber die heimlich Überlegene war unzweifelhaft sie. Und ich war genaugenommen beiden überlegen. Mein Vater wusste nicht, was ich wusste, und meine Mutter wusste nicht, was ich von ihr wusste. Vorausgesetzt, sie hatte mich nicht entdeckt, als sie sich im Wald mit Roberto küsste. Ich fragte mich, ob ich meine Überlegenheit ausspielen sollte. Ob ich Andeutungen machen sollte, die ihr klar werden ließen, dass ich im Bilde war. Gelegenheit hätte es immer wieder gegeben, denn bei fast jedem Abendessen kam mein Vater auf die Faulheit und die Undiszipliniertheit der Mozambiquaner zu sprechen. Na ja, hätte ich sagen können, wenigstens sind sie nicht in jeder Hinsicht faul. Und davon sind sogar Personen betroffen, von denen man es gar nicht unbedingt annehmen würde. Das hätte bestimmt ausgereicht, ihn neugierig zu machen und meinerMutter Angst einzujagen. Aber es wäre mir peinlich gewesen. Schon der Gedanke daran war mir peinlich und kam mir ungehörig vor.
Einmal dachte ich daran, ihnen von meinem Verhältnis zu Nilowsky zu erzählen, das so verwirrend intim war, dass ich nicht wusste, ob man es überhaupt als Freundschaft bezeichnen konnte. Aber auch das tat ich nicht. Zum einen, weil sie von Anfang an gegen ihn gewesen waren, zum anderen, weil ich es einfach nicht fertiggebracht hätte, von meiner angefrorenen Zunge und Nilowskys Befreiungsaktion zu berichten.
Es war noch immer bitterkalt, als mir Reiner eines Nachmittags auf dem Weg von der Schule nach Hause wie zufällig entgegenkam und mich prompt und zu einem, wie er es nannte, Kontrollgang durch den Bezirk mitnahm. »Wir sind jetzt mal Timur und sein Trupp «, sagte er. »Kennst du doch, oder? Junge sowjetische Helfer im Alltag ihrer Mitmenschen, falls du’s vergessen hast. Das heißt, wir gucken nach den älteren Damen, die vielleicht Hilfe brauchen, gucken wir mal, und dabei sehen wir auch gleich, wie die revolutionäre Situation ist.«
Wir gingen kreuz
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