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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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weiblichen Geschlechtskälte, in Klammern Frigidität. Ich rannte aufs Klo und kotzte. Als ich fertig war mit Kotzen, sah ich, dass ein paar Kotzekrümel in meine linke Armbeuge hineingefallen waren. Ich dachte: Die lass ich da. Die Armbeuge wird nicht gewaschen. Nie mehr.«
    Carola hielt inne und schaute zu mir. Vielleicht, dachte ich, will sie mich mit ihrem Blick fragen, ob ich denn auch die tiefere Bedeutung der Kotzekrümel in der Armbeuge erfasst hätte, denn irgendeine tiefere Bedeutung sollten die wohl haben. Ich saß immer noch neben ihr auf der Schiene und guckte verstohlen zu ihrem linken Arm, der, soweit ich das sehen konnte, vollkommen sauber war.
    »Also«, fuhr Carola fort, »ich wusch die Armbeuge nicht mehr, und die Kotze begann zu stinken. In der Schule oder am Esstisch mit meinen Eltern winkelte ich den Arm an. Auf diese Weise konnte der Gestank nicht mehr raus. Heimlich übte ich das Anwinkeln. Sollte ganz normal und natürlich aussehen, damit niemand was dabei vermutete. Nur Carla, bei der ich manchmal zu Besuch war, nachdem Reiner wieder bei seinem Vater wohnen musste, bei seinem Erziehungsberechtigten, wie der blöde Staat das nennt – Carla, die roch den Braten. Sagte: ›Mach mal den Unterarm runter, mach mal, den Unterarm.‹ Machte ich. Und Carla gleich: ›Stinkt ja gotterbärmlich, stinkt das, mein Gott, meinGott.‹ Sie hielt sich die Nase zu und sagte: ›Kindchen, hast du die Kotzsucht, ist was ganz Schlimmes, die Kotzsucht, oder was hast du?‹ Ich wusste nicht, was sie meinte, und das sagte ich ihr. Und darauf Carla: ›Na gut, vergiss es. Aber jetzt gebe ich dir wirklich einen Ratschlag, und den solltest du nicht vergessen, den Ratschlag, den ich dir gebe. Also, wasch die Kotze ab, gründlich ab, und wünsch dir was. Etwas, das unbedingt in Erfüllung gehen soll. Das ist der Ratschlag, den ich dir geb.‹ Ich dachte: Na gut, probieren kann ich’s ja mal. Und am nächsten Tag wusch ich die Kotze ab und wünschte mir, nicht älter zu werden. Denn nur so konnte ich es hinkriegen, nicht in die blöde Pubertät zu kommen. Ist doch logisch, oder?«
    Sie grinste mich an, und ihre großen hellblauen Augen leuchteten in dem sommersprossigen Gesicht. Auf einmal sagte sie: »So verdattert wie du guckst, krieg ich richtig Lust, dich zu küssen. Na los, können wir ja mal probieren. Küss mich!«
    Ich schüttelte erschrocken den Kopf. »Das … Das geht nicht.«
    »Warum denn nicht?«
    »Wegen Reiner. Er will dich heiraten.«
    »Ja und?! Bist du etwa sein Knecht? Mach dich mal frei davon.«
    Sie stand auf und schüttelte ihr Kleid aus, als wäre es voller Staub oder, wie ich sogleich dachte, voller Kotzekrümel. Ich rückte ein Stück von ihr weg und wollte erklären, warum ich nicht Nilowskys Knecht sei. Aber mir fiel nichts ein. Carola lachte laut und stieß mir mit dem Fuß in die Rippen. »Ach Quatsch«, rief sie, »bleib lieber auf der Schiene sitzen. Bis irgendein blöder Zug kommtund dich umfährt. Matsch, Matsch, Matsch, immer weg mit dem Quatsch.«
    Sie hüpfte die Böschung hinunter, schlug ein paar Haken und verschwand hinter einer Häuserecke.

16
    Und wieder sah ich Nilowsky nicht. Eine Woche, zwei Wochen nicht. Das Bahndamm-Eck war geschlossen, die anliegende Wohnung unbewohnt.
    Jeden zweiten Tag ging ich in das Waldstück hinterm Chemiewerk und schaute mit gebührendem Sicherheitsabstand zur rotgelben Baracke mit ihrem Ingwerknoblauchgeruch. Ein paarmal sah ich Elli in die Baracke gehen, immer mit einer großen Handtasche, in der wahrscheinlich ihre Westgewürze waren. Einmal sogar Wally, die ja nun nicht mehr fürchten musste, dass Nilowskys Vater ihr auflauerte. Und natürlich immer wieder Roberto und die anderen Mozambiquaner. Ich verbarg mich so gut es ging, doch gleichzeitig hoffte ich, dass mich Roberto entdecken und fragen würde, ob ich nicht endlich mal reinkommen wolle.
    Nach drei Wochen, Nilowsky war immer noch nicht aufgetaucht, wurde es von einem Tag auf den anderen kalt. Die Kälte kam aus dem Osten, und die Temperatur sank unter den Gefrierpunkt, trotz der zwei Grad vom Chemiewerk und dem einen, das von den Mozambiquanern herrühren musste. Nunmehr ging ich zwar täglich, aber nur für wenige Minuten in den Wald. Und auf einmal sah ich meine Mutter. Genauer gesagt: Ich sah die hochtoupierten Haare, die Turmfrisur, wie mein Vater sie manchmal scherzhaft nannte, hinter einem Baumstammhervorkommen und nach ein paar Sekunden wieder verschwinden. Kein Zweifel, es waren

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