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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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›hält gesund.‹ Aber an dem Abend, als der Alte tot war, dieDrecksau, hat sie sich zwei Gläschen genehmigt. Und darauf noch eins und noch eins. Das sei gut für den Blutdruck, sei das, meinte sie. Und kaum hatte sie das gesagt, begann ihre Nase zu bluten vom Blutdruck. Klar, sie wollte sterben, endlich, war mir klar, was denn sonst?« Er goss sich sein Glas wieder voll und trank auch diesmal auf ex. »Schluss mit der Vergangenheit jetzt, geht um die Zukunft, jetzt, um nichts anderes, um die Zukunft, um die geht es. Also, das Bahndamm-Eck werde ich niemals wieder betreten, niemals, und die Wohnung auch nicht. Alles, was in der Wohnung ist, brauch ich nicht mehr. Kann der Staat haben, kann alles der Staat haben, brauch ich nicht. Die Kellnerlehre aber, die werde ich zu Ende machen. Wäre ja dumm, wenn ich die nicht zu Ende machen würde. Brauch ich nur Zur gemütlichen Rose , die nehmen mich, mit Kusshand nehmen die mich. Aber nach der Lehre, da werde ich was anderes machen. Ich werde nicht als Kellner arbeiten, werde ich nicht. Kellner sind Säufer, irgendwann sind sie Säufer. Aber ich saufe nicht, keinen Tropfen, nur heute mal, nur heute mal ein Gläschen.« Wieder goss er das Glas voll, und wieder trank er es auf ex. »Nur heute mal. Weil du da sitzt, wo du sitzt. Neben dir könnte meine Oma sitzen. Und neben meiner Oma Carola. Meine Oma zwischen euch. Und ich geh hin und her vor euch, auf und ab geh ich, und erzähl euch was, Carla und Carola und dir.«
    Er ging im Zimmer umher, an den schweren, dunklen Möbeln vorbei, und trank noch zwei weitere Gläser auf ex. Allmählich begann er leicht zu schwanken und setzte sich neben mich aufs Kanapee. »Jetzt sitz ich auf ihren Blutflecken, sitz ich, auf ihrem Blut sitz ich. Undwerde immer dran denken.« Mit dieser Mischung aus Hilflosigkeit und Aggressivität erinnerte er mich, obwohl ich den Vergleich nicht zulassen wollte, wieder an seinen Vater.
    »Werde immer dran denken«, sagte er und nahm einen Schluck aus der Flasche. »Dass ich’s nicht geschafft hab, daran werde ich immer denken. Dass ich’s nicht geschafft hab, sie verbluten zu lassen. Erst Carola, die hat’s vollbracht. Am Tag seiner Beerdigung. Aber das weißt du ja. Muss ich dir nicht erzählen.« Er trank den nächsten Schluck aus der Flasche und schlug mit der Faust aufs Kanapee. »Hier hat sie gesessen, hier. Und geblutet hat sie, aus der Nase. An dem Abend, nachdem die versoffne Drecksau, nachdem die tot war, gleich an diesem Abend. ›Böses Blut‹, hat sie gesagt, ›böses Blut, muss raus, raus.‹ Ich wollt’ sie bluten lassen, bis sie ohnmächtig wird, bis sie tot ist, aber ich hab’s nicht geschafft. Einfach nicht geschafft. ›Hör doch auf‹, hab ich gesagt, ›mit dem Bluten, hör bitte auf damit.‹ Und sie: ›Lass mich doch endlich sterben, jetzt kann ich doch, ich merk doch, wie ich’s kann, lass mich endlich.‹ Ich konnte aber nicht, konnte es nicht mit ansehen. Hab ihr Toilettenpapierkügelchen in die Nasenlöcher gestopft. Die hat sie rausgerotzt, hat sie die. Hab ihr mit ’ner Wäscheklammer die Nasenlöcher zugeklemmt und die Hände festgehalten. Aber da hat sie geschrien: ›Lass mich, sterben will ich, lass mich sterben! Geh nach Haus, wenn du, wenn du mich nicht sterben lassen kannst, wenn du das nicht kannst, geh nach Haus!‹ Hab ihre Hände losgelassen, die Klammer abgenommen. Und nach Hause, bin nach Hause.«
    Nilowsky wirkte erschöpft. Tränen liefen über seinGesicht. Aber er redete weiter. »In der Nacht danach träumte ich, von ihr träumte ich. Wie sie blutete, träumte ich. Wie sie ihre schönen langen, grauen, wie sie ihr Haar vollblutete. Wie ihr Gesicht immer faltiger wurde, zusammenfiel, das träumte ich. Die großen dunklen Augen immer lebloser. Der Körper immer mehr zusammenschrumpelte. Wie eine riesige Backpflaume sah sie aus. Am nächsten Morgen, nach dem Traum, ging ich zu ihr, wieder zu ihr. Sie lebte, lebte noch, hatte aufgehört zu bluten. Erzählte mir, dass er sich gemeldet hat, in der Nacht, die Drecksau. Als sie sich grad in die Küche, in die Küche hatte sie sich geschleppt, ein Glas Wasser trinken wollte sie. Und er? Hat schon auf sie gewartet, hat ihr den Wasserhahn aufgedreht und gesagt: ›Nu kannste endlich sterben, aber mach mal hinne, du alte Hexe.‹ Hat er gesagt. Mit seinem blöden Grinsen. Und plötzlich war er wieder weg. Und das Wasser lief aus dem Wasserhahn, und sie machte ihn zu. Kein Durst mehr, hatte keinen Durst mehr.

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