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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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dass er immer noch unglücklich ist. Sag mal, wie habt ihr beide euch eigentlich kennengelernt?«
    Reiner hatte ihr also nicht erzählt, dass der Alte sich selbst umgebracht hat. Ich durfte ihr nichts verraten. Niemals. Auf einmal kam mir wieder in den Sinn, dass Nilowsky mir die Unwahrheit gesagt und doch seinen Vater ermordet haben könnte. Nein, keinesfalls! Ich überlegte kurz, ob ich Carola sagen sollte, dass Reiner erst dann glücklich sei, wenn er mit ihr verheiratet ist. Aber das sagte ich nicht.
    »Wir haben uns kennengelernt, als ich in die Kneipe guckte, Reiner mich sah, hineinbat, und wir seinen besoffenen Vater nach hinten schleppten.«
    »Ach, so habt ihr euch kennengelernt. Na ja, eigentlich ähnlich wie bei uns. Bei uns ist’s schon Jahre her, ich war – ich weiß es noch genau – acht Jahre alt. Früher Nachmittag war’s, dunkler Wintertag, ich allein zu Haus. Er klingelte, und als ich aufmachte, sagte er gleich: ›Guten Tag, kannst du mir mal helfen?‹ Wir gingen rüber in die Wohnung von Carla. Sie lag auf dem Fußboden. ›Sie hat die Luft angehalten‹, erklärte er, ›solangebis sie ohnmächtig geworden ist.‹ Wir zogen Carla zu ihrem Bett, Reiner hievte sie hoch, und dabei kam sie wieder zu sich. Eigentlich hätte er sich auch allein helfen können. Aber er wollte mit mir ins Gespräch kommen. Davon bin ich überzeugt. Mein Gott, neun Jahre ist das schon her.«
    »Das heißt«, sagte ich, »du bist jetzt siebzehn?«
    »Glaubst du nicht, was?«
    »Du siehst jünger aus.«
    »Weiß ich, weiß ich. Wie alt hättest du mich geschätzt?«
    »Dreizehn.«
    »Gratuliere. Mit zwölf hab ich beschlossen, ab dreizehn nicht mehr älter zu werden. Deshalb werde ich auch nie heiraten können. Logisch, oder?«
    So gesehen war das logisch. Die Frage war nur, ob Nilowsky von dieser Logik wusste.
    »Aber Reiner«, sagte ich, »geht davon aus, dass er dich heiraten wird.«
    »Ja, er geht immer von dem aus, was er selber will. Und du? Willst du nicht wissen, wie ich es geschafft hab, nicht älter zu werden?«
    Ich hatte das Gefühl, mich für Reiner einsetzen zu müssen. Dafür zu kämpfen, dass Carola ihn heiratet. Andererseits war ich einfach nur neugierig. »Klar will ich das wissen. Logisch, oder?«
    Es war mir peinlich, dass ich ihre Redewendung wiederholt hatte. Am liebsten hätte ich etwas hinzugesetzt, was die Formulierung nichtig gemacht hätte, aber mir fiel nichts ein.
    »Na gut«, meinte Carola, »ich erzähl’s dir. Ich hab’s noch nicht mal Reiner erzählt. Staunst du, was? Ichhab’s noch niemandem erzählt. Schwöre, dass du es nur für dich behältst. Schwöre!«
    Das war unglaublich: Nicht nur dass mich Nilowsky in Geheimnisse einweihte, die ich nicht verraten durfte – nun auch Carola.
    »Ich schwöre«, sagte ich, hob meine rechte Hand und legte zum Zeichen des Schwurs Zeige- und Mittelfinger aneinander.
    »Also, dreizehnter Geburtstag«, begann Carola. »Ein Sonntag. Meine Eltern fuhren mit mir raus ins Grüne. Müggelsee. Picknick. War außergewöhnlich. Normalerweise kümmerten sie sich nicht um mich. Schichtarbeit, Parteifunktionen, Ehrenämter. Hatten einfach keine Zeit für mich. Außer mal am Geburtstag. Wir saßen am Strand, und sie fingen an: ›Jetzt kommst du ja bald in die Pubertät, und da beginnt ja langsam der Ernst des Lebens.‹ Blablabla, was für ein Schwachsinn. Ich hatte keine Lust auf den Ernst des Lebens. Arbeit, Funktionen, Arbeit, Funktionen … Keine Lust, keine Lust, keine Lust. Aber es kam noch doller: ›Und in der Pubertät entsteht ja auch die Sexualität, da wirst du ja auch eine Partnerschaft haben, in der du die Sexualität ausübst …‹ Ich dacht’ nur: Was reden die denn über das, was ich ausübe oder nicht ausübe. Und was ist denn das für ’n sonderbarer Begriff: Ausüben!? Die spinnen wohl. Arschlöcher. Schließlich reichten sie mir ihr Geburtstagsgeschenk. Ein Buch. Professor Schnabl, igittigitt, schon der Name, warum denn nicht gleich: Professor Penis? Mann und Frau intim . Fragen des gesunden und des gestörten Geschlechtslebens . Dachte sofort: Darf ja nicht wahr sein. Und sie sagten: ›Das sollst du lesen. Zur Vorbereitung auf all das, was dich erwarten wird.‹Ojemine, ojemine, kein Blick wollt’ ich da reintun. Tat ich dann aber doch, zu Hause, als ich wieder allein war. Und da wurde mir erst recht ganz übel: Der Geschlechtsakt, in Klammern Koitus. Die Bedeutung der Koitusposition für die Frau. Wesen und Erscheinungsformen der

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