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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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und quer, diesseits und jenseits des Bahndamms. Die alten Frauen, die wir aufsuchten, hießen Lenchen, Mariechen, Luzy, Hanna, Mathilde, Gerda und Trautchen. Ich hatte sie bei Carlas Beisetzung gesehen, und alle verkehrten, wie Nilowsky mir erklärte, gelegentlich in der rotgelben Baracke. Wir trugen ihnen Kohlen aus dem Keller, wischten Staub von Schränken und Regalen, wo sie nicht oder nur schwer herankamen, und wechselten angegilbte Fenstervorhänge gegen frisch gewaschene. Die Frauen, dankbarund gut gelaunt, belohnten uns mit einer Tasse Tee oder Kaffee, Keksen und Konfekt.
    Nur Mariechen war in missmutiger Stimmung. »Ach, ick werd’ langsam tattrig«, stellte sie fest. »Würd’ am liebsten gar nich mehr aus der Wohnung.«
    »Na, dann bleib in der Wohnung«, sagte Nilowsky. »Wir kommen ja ab und zu vorbei. Können dir erzählen, was draußen passiert, können wir.«
    »Aber denn kann ick ja nich mehr inne Baracke«, entgegnete Mariechen. »Is doch die schönste Abwechslung, die ick noch habe. Bisschen kochen, bisschen unterhalten. Manchmal ’n Tänzchen. Weeßte, wat mir Roberto neulich erzählt hat?« Ihre Augen leuchteten auf einmal. »Roberto, der hatte ’ne Tante. In Maputo, da wo er ooch herkommt. Die Tante wohnte nich in ’ner Hütte am Stadtrand, wie die meisten, sondern in ’nem Hochhaus im Zentrum, wo selten einer hinkam aus ihrer Familie. Als die Tante alt und krank wurde, kam sie nich mehr aus der Wohnung raus. Da hatte Roberto ’ne Idee. Er hängte ’n Kleid von der Tante ans Fenster und sagte zu ihr: ›Wenn’s dir schlecht geht und du Hilfe brauchst, nimm das Kleid vom Fenster. Irgendeiner meiner Freunde wird’s sehen und mir ganz schnell Bescheid geben.‹«
    »Ist ja genial, ist das«, sagte Nilowsky. »Wir hängen ’n Schlüpper von dir raus, und wenn’s dir schlecht geht, nimmst du ihn weg.«
    »Wieso ’n Schlüpper?«, erwiderte Mariechen. »Denkste, ick besitz keen schönet Kleid?«
    Sie holte ihr schönstes Kleid, ein knielanges, schulterfreies, lindgrünes, aus dem Schrank und hängte es ans Fenster ihres Wohnzimmers im ersten Stock. »Hab’slange nich mehr getragen«, sagte sie. »Jetzt hat’s eine ehrenvolle Aufgabe.«
    Als wir uns von ihr verabschiedet hatten und auf dem Weg zu Trautchen waren, fragte ich: »Was ist, wenn’s Mariechen so schlecht geht, dass sie es nicht mehr zum Fenster schafft?«
    Nilowsky grinste und sagte: »Das ist ja der Trick. Ihr wird es nie so schlecht gehen, dass sie es nicht mehr bis dorthin schafft, so schlecht wird es ihr nie gehen. Und ehe du fragst, warum, werd’ ich’s dir verraten. Weil nämlich, weil sie es nicht will , dass sie es nicht mehr bis zu dem Kleid schafft. Ganz einfach. Das nennt sich Psychologie, falls du davon schon mal was gehört hast.«
    Ich hatte davon schon gehört, aber solche Tricks waren mir unbekannt.
    Auch bei Trautchen wendete Reiner Psychologie an. Er fragte: »Warum gehst du eigentlich unsere mozambiquanischen Freunde besuchen?«
    »Na, die interessieren sich wenigstens noch richtig fürs Kochen«, antwortete sie. »Das tut kein deutscher Mann mehr.«
    »Ja, aber meinst du, dass unserm Staat das recht ist?«
    »Ach, unser Staat … Die armen jungen Männer kommen von so weit her, da kann man ja mal ’n bisschen dafür sorgen, dass sie sich nich allzu fremd fühlen in der Fremde. Das dürfte doch wohl ganz im Sinne von unserm Staat sein, oder?«
    »Ja, da hast du recht«, erwiderte Reiner anerkennend. »Das ist ein revolutionärer Pluspunkt, den du hiermit gesammelt hast, das ist es.«
    Trautchen, der es auf den revolutionären Pluspunkt offenbar nicht ankam, sagte: »Is aber nich wie bei Wally,ick meine, Wally, die überall erzählt, wo sie zu Besuch is und deshalb Neger-Wally genannt wird, ick meine, dit is ja nu ooch nich schön, oder?«
    Auch die anderen Frauen fürchteten sich davor, wie Wally in Verruf zu geraten. Und mit Nilowskys aufmunternd gemeinter Bemerkung, »Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert«, wollten sie schon gar nichts zu tun haben. Trotzdem konnte er ihnen eine, wie er es nannte, wichtige revolutionäre Frage nicht ersparen: »Warum«, fragte er wie ein Quizmaster, der wie ein strenger Lehrer auftritt, »warum ist die Baracke unserer mozambiquanischen Freunde ausgerechnet rotgelb angestrichen, ausgerechnet?«
    »Ick nehme mal an«, antwortete Luzy, »weil ’t in Afrika sehr viele jelbe und rote Pflanzen jibt.« Und Mathilde: »Ick weeß et nich, aber ick könnt’

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