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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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einfach so mit mir treffen wolltest oder aus einem bestimmten Anlass. Na los, spuck’s aus!«
    »Einfach nur so, kein bestimmter Anlass«, sagte ich und verabschiedete mich. Ich fühlte mich unbehaglich bei der Vorstellung, dass die hundertjährige Carola, mit dem Aussehen einer Dreizehnjährigen, mein Urnengrab gießt.

22
    Ich überlegte, ob ich den Pfirsichkern überhaupt wieder unter der losen Platte verstecken sollte. Entschied ich mich dagegen, würde ich gegen die verabredete Regel verstoßen – Kern rein, Kern raus, auf den Wechsel kam es an – und dementsprechend Carola wohl nicht mehr treffen können. Als ich darüber nachdachte, wie es wäre, Carola nicht mehr zu sehen, begann mein Herz so stark zu klopfen, dass ich mich zunächst einfach nur fragte, was das zu bedeuten hat. Dieses Ausmaß an Herzklopfen hatte ich, wenn ich an jemanden dachte, noch nie erlebt. Es beunruhigte mich, aber weit mehr noch hätte mir etwas gefehlt, wenn ich es nicht mehr gespürt hätte. Ich fragte mich, ob es mit diesem außergewöhnlichen Zustand zu tun hatte, den man Verliebtheit nannte. Ob ich vielleicht verliebt sei. Ich wusste es nicht, schließlich war ich noch nie zuvor verliebt gewesen. Eins war klar: Ich konnte nicht mit Reiner befreundet sein und zugleich verliebt in das Mädchen, das er heiraten wollte. Ich musste diese Verliebtheit unterdrücken. Oder einfach vergessen. Ich dachte an Oma Vergesslichkeit mit ihrem Also-Heimer. Dieses Leiden allerdings hätte ich um keinen Preis haben wollen.
    Nach drei Tagen legte ich, obwohl immer noch vollkommen unschlüssig, den Pfirsichkern unter die lose Platte vor der Eingangstür zum Bahndamm-Eck und dasFläschchen mit dem Hühnerblut in meine Schreibtischschublade, sodass ich beim Abendbrot mit meinen Eltern gar nicht in Versuchung kommen konnte, als Voodoo-Helfer aktiv zu werden.
    Am nächsten Tag – ich war wieder auf dem Weg von der Schule nach Hause – kam Nilowsky mir wie zufällig entgegen. »Na«, fragte er sogleich, »hast du’s schon geschafft?«
    Mir war natürlich klar, was er meinte. Ich bekam ein Herzklopfen, das an Intensität dem Carola-Herzklopfen nicht nachstand. Was mich mit Nilowsky verband, dieses schwer zu durchdringende Gefühlsgemisch, war nicht weniger stark als die Verliebtheit, wenn es sich denn überhaupt um Verliebtheit handelte.
    Ehe ich gründlicher darüber nachdachte, hörte ich mich sagen: »Ja. Habe ich.«
    Nilowsky staunte. »Alle Achtung«, sagte er anerkennend. »Das hätte ich nicht gedacht. Dass du das schaffst, hätte ich nicht gedacht.« Er überlegte kurz. »Komm mit! Ich muss zum Friedhof.«
    Ich folgte ihm zum Friedhof. Natürlich blieb es nicht bei seinem Kompliment, er wollte auch wissen, wie ich es geschafft hatte.
    »Na ja«, fing ich an, »sie kam wieder zu mir, unangemeldet. In meinem Zimmer zog sie ihren Mantel aus. Trug ihr kurzärmliges Kleid darunter, das weiße mit den roten Punkten. Sie ging zum Fenster, guckte zum Bahndamm. ›Toll‹, sagte sie, ›diese Aussicht.‹ In dem Moment kam der Achteinunddreißiger. ›Unglaublich‹, sagte sie und öffnete das Fenster. Der Achteinunddreißiger donnerte vorbei, und sie sagte: ›Unglaublich, das ganze Zimmer vibriert, und dieser Gestank nach faulen Eiern.Mann, oh Mann‹, sagte sie, ›das ist ja faszinierend, aber wie hältst du das aus?‹«
    Ich schaute gespannt zu Nilowsky. »Na los«, drängte er, »weiter, erzähl weiter.«
    Ich war erleichtert. Zugleich hatte ich Angst, mich dermaßen zu verstricken, dass ich da nie mehr herauskäme. Aber ich verspürte plötzlich auch Lust, noch weiter zu gehen mit dem, was ich mir ausdachte.
    »In dem Zuglärm«, fuhr ich fort, »ging ich ganz dicht an sie heran, von hinten ganz dicht, damit sie mich gut verstehen konnte. Und währenddessen nahm ich das Fläschchen mit dem Blut aus meiner Hosentasche und sagte: ›Diesen Gestank, den musst du ganz tief einatmen, diesen Gestank nach faulen Eiern.‹ Ich schraubte das Fläschchen auf. ›Und deine ganze Körperwärme‹, sagte ich, ›die musst du zum Einsatz bringen, und dem stinkenden Schwefelwasserstoff, dem bleibt nichts anderes übrig, als zu Wasser und zu Schwefeldioxid zu verbrennen.‹ Und ohne dass sie es merkte, kippte ich etwas von dem Blut auf meine Handfläche. ›Und das ist gesund‹, sagte ich, ›wenn du den Schwefelwasserstoff verbrennst, gesund ist das und gibt dir Kraft‹, und bei dem Wort ›Kraft‹ legte ich die Handfläche an ihren Oberarm, nur ganz

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