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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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kurz, aber ausreichend lang, damit Blut auf ihrem Oberarm zurückblieb. ›Ja, Kraft‹, sagte ich noch einmal, und der Achteinunddreißiger war vorüber. Sie schloss das Fenster und meinte: ›Du redest wie Reiner. Hast du das von Reiner? Dieser komische Rhythmus.‹ Und ich antwortete: ›Ja. Ja und Nein. Wir denken gleich darüber. Weil wir einer Meinung sind. Besser gesagt: Es ist ja keine Meinung, sondern eine Erkenntnis. Verstehst du?Deshalb rede ich wie er. Logisch, oder?‹ Sie grinste. ›Logisch hast du aber von mir‹, meinte sie. Und fragte: ›Die Körperwärme, ist die denn überhaupt so groß?‹ Und ich …«
    »Und du«, unterbrach mich Nilowsky, »du sagtest: ›Klar ist die so groß. Wenn du willst, dass sie so groß ist, wenn du das unbedingt oder sogar hundertprozentig willst, ist sie auch so groß. Das ist sie.‹ Sagtest du das?«
    »Ja, das sagte ich.«
    »Und das Blut, hat sie es bemerkt, das Blut?«
    »Das Fläschchen hatte ich schnell wieder zugeschraubt. Und zurück in meine Hosentasche. Und die Handfläche schnell mit einem Papiertaschentuch gesäubert …«
    »Aber das Blut an ihrem Arm«, unterbrach mich Nilowsky, »an ihrem Oberarm, das Blut?«
    »Ja, nun lass mich doch mal ausreden«, antwortete ich mit einer Schärfe, wie ich sie mir ihm gegenüber noch nicht erlaubt hatte. »Das Blut an ihrem Oberarm, das bemerkte sie nicht, erstmal nicht. Vielleicht weil ihr Kleid rote Punkte hatte, vielleicht deshalb. ›Muss wieder los‹, sagte sie. ›Hab noch viel zu tun.‹ Ich brachte sie zur Wohnungstür. War froh, als sie weg war. Dass ich das mit dem Blut geschafft hab, das Ritual vollendet. Zwei oder, nein, drei Minuten später kam sie zurück, zeigte auf ihren Oberarm. ›Weißt du, wie das Blut da rangekommen ist?‹ Und ich: ›Nein, keine Ahnung, absolut nicht.‹ Sie schüttelte den Kopf, verwundert, beeindruckt. ›Mystisch, mystisch. Nun ja, ich lass es dran. Wird schon irgendeine Bewandtnis haben.‹«
    »Wie? Sagte sie tatsächlich: ›Ich lass es dran, wird schon eine Bewandtnis haben.‹ Tatsächlich?«
    »Na ja, wenn ich’s dir sage. Oder glaubst du mir nicht?«
    »Klar glaub ich dir«, beeilte sich Nilowsky zu erwidern, als würde sich durch Misstrauen oder allein schon durch eine zögerliche Antwort der Zauber nicht ereignen können.
    Inzwischen waren wir auf dem Friedhof, am Grab von Carla und Maria Serrini. Nilowsky holte eine Tube Duosan Rapid und ein Schwarzweißfoto unter seinem Anorak hervor. Das Foto war in einer durchsichtigen Plastikfolie und zeigte einen weiten Olivenhain. »Hiervon«, sagte Reiner, »hat meine Oma oft erzählt. Das war ihre stärkste Kindheitserinnerung, war das. ›Der Wind‹, sagte sie immer, ›war ganz fein, wenn man bei den Olivenbäumen war, ganz fein und leise.‹ Das war der Wind in Apulien, wo Lecce die Hauptstadt ist. In Apulien, wo meine Oma aufwuchs. Der Wind, wie oft erzählte sie von diesem Wind.«
    Er klebte das Foto in der Plastikfolie mit Duosan Rapid an den Grabstein. Dann strich er mit der flachen Hand über das Glatteis auf der Urnenstelle. »Das ist komisch«, sagte er und lächelte. »Vielleicht hat hier jemand gegossen. Damit die Seelen der Toten Schlittschuh laufen können, auf dem Eis hier.«
    Ich verriet ihm nicht, wer hier auf wessen Geheiß gegossen hatte. Ich dachte nur: Wie schön wäre es, wenn, auch ohne Voodoo-Zauber, Nilowsky und Carola ein Liebespaar würden.

23
    Der Winter wurde noch kälter und dunkler. Manche der Züge fuhren nicht mehr pünktlich vor meinem Fenster vorbei. Ich versuchte herauszufinden, ob es so etwas wie ein System der Unpünktlichkeit gab, ob da irgendeine Logik waltete. Ich notierte mir in ein eigens dafür angelegtes Heft, um wie viel Minuten die Züge Verspätung hatten. Doch ich konnte, wie auch immer ich rechnete, keine Logik aufspüren. Zu gern hätte ich mich mit Nilowsky darüber ausgetauscht, aber er lief mir nicht mehr über den Weg, und auch im Altstadtcafé Zur gemütlichen Rose , an dem ich ein paarmal vorbeiging, konnte ich ihn nicht entdecken. Ich nahm mir vor, ihn in der Wohnung von Carla Serrini zu besuchen. Aber das traute ich mich dann doch nicht. Es war mir irgendwie nicht geheuer.
    Nach einer Woche ging ich auf den Friedhof. Das Schwarzweißfoto mit dem Olivenhain klebte unverändert am Grabstein von Carla und Maria Serrini. Ich ging zum Bahndamm, an den Gleisen entlang und ließ Groschen plattfahren, die ich zu Hause in meiner Schreibtischschublade deponierte. Und

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