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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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– so wat hatte wohl noch niemand jehört und schon jar nich vorm Jericht –, war Carola überhaupt nich schockiert. Nee, die lächelte Reiner an. Die war beeindruckt, und richtig stolz uff ihn war sie. Und Reiner, der redete einfach weiter: ›Die Urne von meinem Vater, die hab ich ausgegraben, und zerschlagen hab ich die, weil ich ihn erlösen wollte, endlich erlösen. Hab ich schon lange vorgehabt, schon bei seiner Beerdigung hab ich das vorgehabt. Die Asche soll vom Winde verweht werden, damit nichts mehr von ihm übrig ist, und er muss sich nicht mehr quälen, wenn nichts mehr von ihm übrig ist.‹ – Ja, auch dit waren seine Worte. Wie ’n Verrückter, aber janz klar, so sagte er dit. ›Und die Baracke‹, sagte er weiter, ›da gab’s nur Schweinereien, aber nicht, was Sie denken, Herr Richter, nichts mit Frauen. Nein, die Schweinereien werde ich nicht erzählen, werde ich nicht. Jedenfalls, die Baracke, da war nichts mit Revolution und Solidarität, da war nur Lüge und Verrat, deshalb hab ich die Baracke abgebrannt, deshalb!‹ – Dit waren also ebenfalls seine Worte, und der Richter meinte: ›Das Feuer hätte aufs Chemiewerk übergreifen können, und in dem Fall wäre eine Katastrophe passiert.‹ Und Reiner darauf, janz klar und entschieden: ›Nein, das war nicht möglich. Ich hätte es niemals getan, wenn das möglich gewesen wäre, niemals!‹ Der Richter zählte alle Verbrechen zusammen, verzichtete daruff, die Zeugen zu hören, undverkündete dit Urteil: Vier Jahre, ohne Bewährung. Reiner janz ruhig, jespenstisch ruhig. Und Carola beeindruckt, richtig bewundernd. – Ja, so war dit!«
    Wally goss sich einen Eierlikör ein und fragte: »Warum warst du eijentlich nich dabei? Warst doch sowat wie ’n Freund für ihn. Aber nee, lass mal, kann ick schon verstehen, kann ick dit.«
    Sie trank den Eierlikör, und ich fühlte mich nach ihrer Frage erneut wie ein Versager. Wäre ich dabei gewesen, hätte ich mit Reiner zumindest Blicke austauschen und dadurch etwas über seine Gefühle erfahren können. Ich hätte vielleicht auch die Chance gehabt, mit Carola zu reden. Ihre Bewunderung für Reiner zu erleben. Sie in dieser Bewunderung zu bestärken. Doch die Furcht, genau das nicht zu schaffen, und die Möglichkeit, dass Reiner meine Anwesenheit nicht gut getan hätte, hatten mich davon abgehalten. Oder es war noch viel einfacher: Sein »Hau ab!«, mit dem er mich von der brennenden Baracke weggeschickt hatte, war für mich so etwas wie ein Freifahrtschein für meine Feigheit.
    »Und Carola?«, fragte ich. »Ist sie wieder weg?«
    »Dit is sie«, antwortete Wally und goss sich den nächsten Eierlikör ein. »Und keener weeß, wo sie hin is.«
    Einige Male noch fuhr ich zum Bahndamm, ging immer wieder zu den Orten, an denen ich mit Nilowsky gewesen war; und jedes Mal musste ich heulen, wenn ich die verkohlten Reste der Baracke sah. Ich trug seinen Schatz, die plattgefahrenen Groschen, in der Zellophantüte bei mir und hoffte, Carola zu treffen. Ich musste mir eingestehen, dass ich nach all den Wochen immer noch in sie verliebt war, ohne dass ich es wollte.
    Es war schon Sommer und brütend heiß, als ich zum letzten Mal – so hatte ich es mir fest vorgenommen – über den Friedhof ging, am Bahndamm entlang und durch die Straßen hinterm Chemiewerk. Mariechens lindgrünes Kleid hing nicht mehr an ihrem Fenster, und von Wally erfuhr ich, dass sie mindestens drei Tage lang tot im Bett gelegen hatte, bis Lenchen, mit der sie zu Kaffee und Kuchen verabredet gewesen war, die Polizei verständigte. Vor ihrem Tod war Mariechen wohl einfach viel zu schwach gewesen, um noch zum Fenster zu gehen und das Kleid wegzunehmen. »Dit hat also nich jeklappt«, resümierte Wally, »mit der Psychologie oder wie sich dit nennt und dem Willen, wie Reiner dit erklärt hat. Hat er sich so jedacht, mit dem Willen, der den Tod verhindert, aber jeklappt hat dit nich.« Sie führte mich zum Küchenfenster, das zum Hof hinausging, und zeigte auf das gelbe Tuch, das aus ihrem Fenster hing. »Ick hab ’ne bessre Methode«, erklärte sie. »Jeden Tag ’n neuet Tuch. Braun, rot, grün, alle möglichen Farben. Und wenn zwee Tage hinternander dit selbe Tuch draußen hängt, is mir wat passiert. Wie findste dit?«
    »Sehr gut«, antwortete ich und hatte plötzlich das Bedürfnis, Wally zu erzählen, dass ich zusammen mit Nilowsky die Urne seines Vaters ausgegraben hatte und dabei gewesen war, als er die Baracke anzündete. Aber es

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