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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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ist nicht mehr da, der Geruch. Das ist nur noch Einbildung, Erinnerung. Jetzt heißt es: nach vorne blicken, in die Zukunft. Das heißt es jetzt.«
    Er zog eine Schnapsflasche aus seinem Koffer. Ich konnte in der Dunkelheit das Etikett nicht erkennen.
    »Was ist das? Was hab ich da drin?«
    »Schnaps«, antwortete ich.
    »Oh mein Gott, wie begrenzt deine Phantasie ist, wie begrenzt. Denkst nur an Schnaps. Na los, mein Freund, weiter raten!«
    »Salzsäure«, sagte ich, um nicht ohne Vermutung dazustehen, und fragte mich gleichzeitig, was er damit vorhaben könnte. Dass er sich umbringen wollte, konnte ich mir nicht vorstellen. Dafür hatte er eben noch viel zu optimistisch geklungen mit seiner Parole: nach vorne blicken, in die Zukunft.
    »Schon besser, mein Freund, schon besser. Aber Salzsäure hat einen Nachteil. Salzsäure brennt nicht. Das ist der Nachteil von Salzsäure.«
    »Du willst doch nicht …«
    »Warum denn nicht? Das will ich. Genau das.«
    Er schüttete den Inhalt der Flasche auf den Holzboden, zündete ein Streichholz an und warf es in die Benzinpfütze. Augenblicklich loderte eine Flamme aus der Pfütze. »Ja, das will ich«, wiederholte Nilowsky zufrieden. »Sieht schön aus, das Feuer, richtig ästhetisch, findest du nicht? Und jetzt kriegst du noch was von mir, pass auf.«
    Er nahm, während das Feuer über die Grenze der Pfütze hinausging und an die Holzwände gelangte, eine Zellophantüte aus seinem Koffer und reichte sie mir. In der Tüte waren seine plattgefahrenen Groschen, dreißig, vierzig, mehr nicht. »Das sind die schönsten Exemplare, sind das. Die bewahrst du für mich auf. Bis ich zu dir komme und sie wiederhaben möchte, bewahrst du sie auf, nicht einen Tag weniger. Und jetzt verschwinde.«
    »Ich kann doch jetzt nicht gehen«, erwiderte ich. »Ohne dich.«
    »Und ob du das kannst. Hau ab!«
    Es war ein Befehl, frei von jeglicher Bitte. Jedoch mit einer Gelassenheit ausgesprochen, wie ich sie noch nie bei Nilowsky erlebt hatte. Vielleicht war es die Macht dieser Gelassenheit, die mich geradezu willenlos werden ließ. Jedenfalls ging ich, ohne auch nur ein Wort der Verabschiedung gesagt zu haben. Ich bemühte mich, nicht in einen Laufschritt zu verfallen. Bloß nicht auffallen.
    Auf dem Weg zur S-Bahn merkte ich, dass es bereits zu dämmern begonnen hatte. Aus der Ferne ertönten die Sirenen von Polizei und Feuerwehr. Ich blieb stehen, überlegte, zurück zu Nilowsky zu gehen. Nein, entschied ich. Das, was er getan hatte, hatte nur noch mit ihm zu tun. Und sein Befehl, dass ich abhauen solle, war nichts anderes als die logische Folge. Ich ging weiter zum S-Bahnhof und stieg in die Bahn, die voll war von Menschen, die zur Arbeit fuhren. Die Zellophantüte mit den plattgefahrenen Groschen presste ich an meinen Bauch, als hätte es jemand darauf abgesehen, sie zu klauen.

31
    Eine Woche nach der Nacht mit Nilowsky fuhr ich zurück. Ich ging zu den alten Frauen, zu Lenchen, Mariechen, Wally. Von ihnen erfuhr ich, dass die Baracke fast vollständig abgebrannt war, während Nilowsky am Tatort verharrt und sich sofort der eintreffenden Polizei gestellt hatte. Inzwischen sei er in Untersuchungshaft; die Gerichtsverhandlung würde nicht lange auf sich warten lassen.
    Tatsächlich fand die Verhandlung bereits drei Wochen später statt und dauerte nicht länger als eine halbe Stunde, wie mir Wally, die unter den Zuschauern gewesen war, wenige Tage danach berichtete.
    »Verhandlung konnte man dit nich nennen«, meinte sie. »Er gab ja allet zu.« Wally überlegte kurz, dann erzählte sie: »Dit Besondere aber war wat anderet. Dit Besondere war, dass Carola da war. Zwee Bänke hinter mir saß sie. Ihre Eltern, die Bonzeneltern, sollten ja als Zeugen ufftreten. Und Carola saß da und guckte zu Reiner. Und der guckte zu ihr, dürr wie er war, mit Riesenoogen im Knochenjesicht, und sagte zu dem Richter: ›Ich kann Ihnen gleich verraten, weshalb ich mich versteckt habe, da brauchen Sie mich gar nicht fragen, brauchen Sie nicht. Ich wollte nämlich Frau Worgitzke nicht vergewaltigen, aber umbringen, das wollte ich. Blöderweise hab ich’s nicht fertiggebracht. Aber eines Tages werdeich es tun. Werde ich! Und den Genossen Worgitzke, den werde ich zusammenschlagen und ebenfalls umbringen. Deshalb hatte ich mich versteckt, deshalb!‹ – Ja, dit waren seine Worte, jenau seine Worte, und dabei guckte er immer noch zu Carola, janz offen und ruhig guckte er. Und während alle im Saal schockiert waren

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