Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
Vom Netzwerk:
kam mir irgendwie prahlerisch vor, und deshalb sagte ich kein Wort davon. Stattdessen fragte ich: »Wie ist es, wenn man in jemanden verliebt ist, aber das nicht sein will?«
    »Wie dit is? Janz einfach: Kannste nischt machen. Musste abwarten. Kennste nich dit Sprichwort? Die Zeit heilt alle Wunden. Oder kennste dit andre Sprichwort?Dit is noch viel besser. Jibt nich nur ’ne Handvoll, jibt ’n janzet Land voll.«
    »Nein«, antwortete ich, »kenne ich nicht. Ich werd’s mir merken.«
    »Sehr gut«, sagte Wally. »Da kann ja nischt mehr schiefgehen. Und nu mach dir mal wieder uff die Socken.«
    Ich verabschiedete mich von ihr, das erste Mal mit einer Umarmung. Als ich nach Hause fuhr, wiederholte ich immer wieder für mich die beiden Sprichworte, bis ich mir sicher war, sie nie mehr zu vergessen. Sie hatten etwas sehr Einfaches, aber Lebenskluges an sich. Das Tröstliche, das von ihnen ausging, tat mir gut.

32
    Im August feierte ich meinen fünfzehnten Geburtstag, im September kam ich auf die Erweiterte Oberschule. Ein neuer Lebensabschnitt, wie meine Eltern es stolz nannten.
    Ich bemühte mich, etwas von ihrem Stolz für mich abzuzweigen, lernte noch fleißiger und war noch ehrgeiziger, als ich es nach dem Umzug nach Pankow schon gewesen war. Und so wurden mir Fleiß und Ehrgeiz auch auf meinem ersten Zeugnis in der neuen Schule bescheinigt. Der Klassenlehrer schlug mich als Verantwortlichen für Solidaritätsmaßnahmen vor; ich brachte es nicht fertig, Nein zu sagen, und sammelte fortan monatlich bei meinen Mitschülern Geld für die SANDINISTAS in Nicaragua, die Palästinensische Befreiungsorganisation oder die FRELIMO. Ich hatte den Eindruck, dass mir niemand wirklich gern etwas von seinem Geld gab, doch nicht einer verweigerte sich, denn alle hatten vermutlich Angst, als unsolidarisch dazustehen. Einmal fragte ich Manuela, die Klassenbeste, warum ich von ihr nur zwei Mark bekäme. Da sie mir nicht gleich antwortete, erklärte ich ihr, dass sowohl in Nicaragua als auch im Nahen Osten und vor allem in Mozambique eine revolutionäre Situation herrsche, die unbedingt zu unterstützen sei. Sonst siege die Konterrevolution, und der sozialistische Fortschritt in der Welterleide eine heftige Niederlage. Da das für sie noch nicht beachtlich genug war, definierte ich in einem Satz, worin eine revolutionäre Situation besteht. Manuela, die Klassenbeste, hätte es in einem Satz nicht sagen können. Von nun an gab sie mir Monat für Monat nicht zwei, sondern vier Mark.
    Nach dem Unterricht hatte ich wenig mit meinen Mitschülern zu tun. Ich verbrachte Stunden zu Hause in meinem Zimmer, las und lernte, oder ich machte lange Spaziergänge, in denen ich noch weiter über mathematische Formeln und physikalische Gesetze nachdachte. Immer häufiger ging ich in den Schlosspark. Dort, an der Panke, traf sich fast jeden Abend eine Clique, die ich heimlich beobachtete. Es handelte sich um fünf bis sieben Jungs und zwei, drei Mädchen. Sie tranken Bier, rauchten und hörten aus ihren Kassettenrekordern Musik von Deep Purple, Led Zeppelin oder Uriah Heep. Die Jungs hatten Haare, die bis über die Ohren reichten oder sogar schulterlang waren. Sie trugen Jeans und Parka oder abgewetzte Lederjacken. Die Mädchen eiferten ihnen mit der Kleidung nach. Manchmal tanzten sie ausgelassen zur Musik.
    Es war an einem warmen Frühlingsabend, als eines der Mädchen mir zuwinkte, während ich über fünfzig Meter entfernt einen Weg entlangging. Zuerst konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich gemeint war, dann tat ich so, als hätte ich sie nicht bemerkt. Ich fühlte mich fremd, unterlegen. Noch nie hatte ich es mit einer Clique zu tun gehabt. Und noch nie hatte ich in der Öffentlichkeit Rockmusik gehört, noch nie hatte ich Kleidung getragen, die man als eine Form von Widerstand gegen den Sozialismus ansehen konnte. Das Mädchen ließnicht nach, mir zuzuwinken. Auf einmal war es mir peinlich, sie weiter zu ignorieren. Ich fasste mir ein Herz und ging zu ihr.
    Statt einer Begrüßung fragte sie mich, ob ich ein Bier wolle. Sie legte ihren Kopf dabei leicht zur Seite und lächelte mich an. Sie war groß und schlank, und ihre Augen waren so hellblau wie ihre verwaschene Jeans. Ich nickte nur knapp, weil »Ja« zu sagen mir schon zu offensiv vorgekommen wäre. Sie reichte mir ein Bier, und als käme es darauf an, keine Pause entstehen zu lassen, trank ich sofort einen großen Schluck. Während ich trank, sah ich aus den Augenwinkeln die

Weitere Kostenlose Bücher