Nilowsky
»hassen ihre Eltern, Dieter und Micha ihre Lehre als Schlosser, und Martin, der hasst alles: seine Maurerlehre, seine Alten, sogar seine Geschwister und Großeltern.« Sie hingegen, erzählte sie, sei auch nicht gerade begeistert von ihrer Lehre als Kosmetikerin, aber sie freue sich auf die Arbeit in diesem Beruf. Man komme mit vielen Menschen zusammen, könne dazu beitragen, dass sie schöner aussehen als sie von Natur aus sind, und daraus entstehe doch eine enorme Befriedigung. Außerdem liebe sie ihre Eltern, ihre ältere Schwester, obwohl sie sich in der Kindheit mit ihr immer gestritten habe, und ihre Großeltern liebe sie sowieso. Kein Wunder, dass sie die Einzige aus der Clique sei, die nicht in den Westen wolle. Was solle sie denn dort? Sie schaute mich an, erwartete offensichtlich eine Antwort. »Ja«, sagte ich, »das finde ich auch.« Tatsächlich hatte ich noch nie daran gedacht, eines Tages in den Westen überzusiedeln. »Mal nach Spanien reisen oder Frankreich oder Italien«, sagte ich, »das würde ich gern. Aber ich würde immer wieder zurückkommen.« – »Ich auch«, meinte Martina. Es klang wie die Hervorhebung einer einzigartigen Übereinstimmung. »Und wo würdest du am liebsten hin, wenn du könntest, jetzt, sofort?« – »Nach Paris«, sagte ich. »Oder nach Rom. Oder … nach Apulien.« Sie hatte noch nie etwas von Apulien gehört. »Das ist in Italien«, erklärte ich. »Der Hacken des Stiefels.«
Einige Wochen vergingen, in denen wir die Clique und den Schlosspark mieden, uns immer geschickter und ausgiebiger küssten und ich schließlich meine Lust, mit Martina zu schlafen, kaum mehr zurückhalten konnte. Ich sagte es nicht. Höchstens deutete ich es an,indem ich, wenn wir uns küssten, meine Hände an ihrem Rücken zum Po hinuntergleiten und sie dort verweilen ließ. Eines Abends, in der ersten Woche der Sommerferien, sagte Martina, dass sie noch ein bisschen Zeit brauche, ein bisschen nur müsse ich mich noch gedulden. Dass sie meine Lust offenbar bemerkt hatte, machte mich glücklich. Dieses Unausgesprochene und das Vertrauen, das ich aus ihrer Bitte herausgehört hatte, berührten mich so sehr, dass ich mich in Martina verliebte.
Immer wieder hatte ich an Carola gedacht. Und mit ihr an Nilowsky. Jetzt jedoch begannen die beiden in meiner Erinnerung zu verblassen. Ich war froh darüber, hoffte aber, dass ein wenig von der Erinnerung nie vergehen würde. Meine Verliebtheit, dachte ich, war gewissermaßen geblieben, galt nun aber nicht mehr Carola, sondern Martina. Sie war einfach gewechselt. Von einer Person zu einer anderen. Dass das ging, hätte ich nicht für möglich gehalten. Nun hatte ich es erlebt. Oder glaubte zumindest, es erlebt zu haben. Ich dachte an Wallys Worte: Jibt nich nur ’ne Handvoll, jibt ’n janzet Land voll . Nicht alle Mädchen des Landes hatte ich gebraucht, eines hatte schon gereicht. So einfach war das.
Ich lud Martina zu meinem sechzehnten Geburtstag ein. Meine Eltern, schien mir, waren aufgeregter als sie und ich, als wir zu viert am Wohnzimmertisch saßen, Zitronenkuchen aßen, den meine Mutter gebacken hatte, und Kaffee tranken. Mein Vater erzählte, wie er als zweiundzwanzigjähriger Chemiestudent auf Praktikumseinsatz meine Mutter erblickt hatte. Er sagte tatsächlich: erblickt . Und dann sprach er von sofortiger Erregung , die ihn gepackt hatte. »Ein halbes Jahr aber musste ich um sie werben, ehe sie sich für mich entschied.Sie hatte ja noch ’n kleines Techtelmechtel mit ’nem Arbeiter aus der Chemiebude, wo sie als Sekretärin arbeitete. Na ja, ich war geduldig, denn ich wusste, ich wollte sie und nur sie.«
»Das war kein Techtelmechtel«, wandte meine Mutter ein, »und ich hab mich auch nicht für dich entschieden . Ich hab mich nach ’nem halben Jahr in dich verliebt, und daraufhin war die Beziehung mit dem andern aus.«
»Na ja, dann war’s eben so«, sagte mein Vater mit gespieltem Bedauern und schlug vor, zur Feier des Tages einen guten Weinbrand zu trinken.
Ich sah Martinas Unbehagen und sagte: »Für uns keinen Alkohol! Und wir müssen nach dem Kaffee auch gleich los.«
»Nicht mal ’n Schlückchen?« Mein Vater war irritiert, doch bevor er mehr dazu sagen konnte, meinte meine Mutter: »Das ist großartig, dass ihr keinen Alkohol trinkt. Ich freu mich, wie vernünftig ihr seid.«
Kaum hatten wir unseren Kaffee ausgetrunken, verabschiedeten wir uns und gingen in die Rampe .
»Dein Vater und deine Mutter sind doch nett«,
Weitere Kostenlose Bücher