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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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nicht. Er hat’s gewusst, dass ich ihm die Salzsäure ins Bier gießen wollte, er hat es gewusst. ›Ick bin zäh, mir kriegste nich einfach so weg‹, hat er gesagt. Mit Tränen in den Augen. Hatte ich noch nie gesehen bei ihm, Tränen in den Augen, noch nie. Und dann hat er sich selbst umgebracht. Eine ganze Flasche auf ex. Meldekorn, was sonst? War ja seine Sorte. Gleich tot. Das soll mal einer hinkriegen. Will ich erstmal sehen, dass das einer hinkriegt. Gleich tot, selber geschafft.«
    Ich glaubte, nicht recht gehört zu haben: Aus Nilowskys Worten klang Bewunderung.
    »Ich würde das jedenfalls nie hinkriegen«, sagte er, »niemals. Bin viel zu feige dazu.«
    Er setzte die Flasche erneut an, doch bevor er zu trinken begann, nahm ich all meinen Mut zusammen und sagte, in dieser Mischung aus Bitte und Befehl: »Lass mich mal! Ich hab erst ’nen kleinen Schluck. Jetzt bin ich nochmal dran!«
    Er nahm die Flasche vom Mund, sah mich erstaunt an und meinte nur: »Ja, das stimmt.« Dann reichte er mir die Flasche und stellte fest: »Wie gesagt, zu feige dazu. Siehst du ja. Wohl bekomm’s.«
    Kaum hatte ich die Flasche in der Hand, kämpfte ich schon gegen einen Würgereiz. Ich hielt die Luft an und trank. Einen Schluck, den zweiten, den dritten. Plötzlich konnte ich nicht mehr anders: Ich riss mir die Flasche vom Mund, warf sie mit Schwung über einige Gräber hinweg und kotzte. Noch heftiger als am Bahndamm, nachdem mir Nilowsky auf meine festgefrorene Zunge gepinkelt hatte. Derart heftig wie noch nie in meinem Leben. Und trotzdem achtete ich darauf, nicht aufs Grab des Vaters zu kotzen.
    Als ich fertig war, sank ich auf die Knie und atmete erschöpft durch. Nilowsky strich mir über den Kopf und meinte: »Nu weene mal nich, nu weene mal nich, inne Röhre stehn Klöße, die siehste bloß nich. Kennst du nicht das Sprichwort?«
    Ich weinte nicht, und wenn ich geweint hätte, dann vor allem aus Freude, ihm womöglich das Leben gerettet zu haben. »Geht mir wieder gut«, sagte ich. »Geht mir gut.«
    »Siehst aber nicht gerade aus, als ob’s dir gut ginge«, erwiderte er, hob mich hoch, legte mich über seine Schulter, klemmte die beiden Spaten und den Koffer unter den Arm und ging los. »Kotzen ist gut«, sagte er und lallte überhaupt nicht mehr. »Kommen die Gifte aus dem Körper. Immer raus damit, immer raus mit den Giften. Ist gesund, ist das. Aber nach Hause kannst du nicht. Bist viel zu schwach dazu. Kommst mit zu mir. Fährst morgen früh nach Hause.«
    Wieder glaubte ich, nicht recht gehört zu haben. Aber ich widersprach ihm nicht. Abgemagert wie er war, hievte er mich sogar über die Friedhofsmauer; und als ich mich nicht mehr tragen lassen wollte, bestand er darauf, mich wenigstens zu stützen. Er legte einen Arm um meine Schulter und hielt mich unter der Achsel. So gingen wir zu seinem Versteck.

30
    Das Versteck war ein Erdloch, bedeckt mit einer Holzplatte, auf die Nilowsky Moosflechten genagelt hatte. Das Erdloch war keine hundert Meter von der Baracke entfernt. Es war höchstens einen Meter tief und gerade mal so lang und breit, dass zwei Menschen mit angewinkelten Beinen und gekrümmtem Oberkörper liegen konnten. So lagen wir also da, meine Brust an Nilowskys Rücken, mein Mund nur wenige Zentimeter von seinem Hals entfernt. Trotz der Wärme, die Reiner abstrahlte, war mir kalt. Ich konnte nicht schlafen. Um Reiners Schlaf nicht zu stören, bemühte ich mich, ruhig und gleichmäßig zu atmen, während ich immer mehr das Gefühl hatte, in einem Sarg zu liegen. Ich ging davon aus, dass Nilowsky den knapp bemessenen Sauerstoff wegatmen und ich früher oder später ersticken würde, sofern ich nicht wach bliebe, um im äußersten Notfall das Erdloch verlassen zu können.
    »Na, du? Ich merke, dass du nicht schlafen kannst, das merke ich.« Reiners Stimme klang verständnisvoll. »Würde mir übrigens genauso gehen, wenn Roberto neben mir liegen würde. Besser gesagt: Schlimmer, viel schlimmer würde es mir da gehen. Oder hast du nicht gesehen, wie er mich angestarrt hat beim Voodoo-Ritual, wie er auf meinen Oberkörper gestarrt hat? Das war eindeutig, wie er gestarrt hat.«
    Ich begriff, was Nilowsky meinte, aber mir war nicht aufgefallen, dass Roberto oder auch Ricardo oder Pedro ihn in einer solchen Weise angestarrt hätten. Nilowsky setzte sich auf, und wie auf Kommando setzte auch ich mich auf.
    »Du glaubst nicht, was für Schweinereien mir Roberto erzählt hat. Soll ich dir mal von seinen

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