Nilowsky
Wiedemann, genannt Lenchen, sah.
»Drei Wochen nach Mariechen is sie jestorben«, erklärte Wally und stellte die Harke an Lenchens Grabstein ab. »Dit heißt, Mariechen hat sie nachjeholt. Mariechen hatte ja keenen andern, den sie hätte nachholen können. Da hat sie Lenchen nachjeholt. Nur jut, dass ick mir nich so oft zu Kaffee und Kuchen mit Mariechen jetroffen hab.«
Wallys Logik des Nachholens beeindruckte mich, und ich wollte nicht ausschließen, dass mehr dahinter steckte als nur ein Hirngespinst. Ohne ihre Aufforderung abzuwarten, begann ich das Grab von Lenchen zu gießen, während Wally die Stiefmütterchen begutachtete. »Bei mir herrscht Gleichberechtigung«, stellte sie rigoros fest. »Alle, die keenen haben, der sie pflegt, kriegen Stiefmütterchen von mir. Ohne mir wäre der Friedhof halb so schön. Ach wat, viertel so schön wär der nur.«
»Wenn Reiner und Carola das Foto mitgenommen haben«, sagte ich, »vielleicht bedeutet das, dass sie nach Apulien auswandern wollen. Oder schon geflüchtet sind, irgendwie. Nach Lecce, wo Reiners Oma aufgewachsen ist, die ihm immer vom Wind im Olivenhain erzählt hat …«
»Nu is aber mal jut«, unterbrach mich Wally. »Wenn du schon hier bist uff ’m Friedhof, wo du eigentlich nischt zu suchen hast, dann hilf mir beim Gießen, und ansonsten halt die Klappe!«
Ich hätte gerne gewusst, warum ich auf dem Friedhof nichts zu suchen hatte, aber ich wollte nicht fragen. Möglicherweise meinte Wally, dass ich in der ganzen Gegend nichts mehr zu suchen hätte. Wahrscheinlich, dachte ich, hat sie auch recht damit. Ich sollte einfach nur noch nach vorne schauen. Auch wenn die Zukunft für mich erst einmal achtzehn Monate Armee waren, Grundwehrdienst. Darauf freute ich mich nicht gerade, im Gegenteil, mir war bange davor, doch immerhin würde es neuerliche und hoffentlich sehr wirksame Ablenkung mit sich bringen. Außerdem hatte ich einen Studienplatz: Pädagogik, Fachgebiete Mathematik und Physik. Nach der Armeezeit würde ich mit dem Studium beginnen. Beste Voraussetzungen, sagte ich mir, für ein gutes Leben.
Ich verabschiedete mich mit einem höflichen Händedruck von Wally und fuhr nach Hause. Dort angekommen, ging ich geradewegs in den Keller und holte hinter einem Stapel von Briketts die Zellophantüte mit den plattgefahrenen Groschen hervor. Meine Hände zitterten, als ich auf den Haufen Aluminium starrte, der Nilowskys Schatz gewesen war und der ihn, wenn esdrauf ankäme, beschützen sollte. Doch an meinem Vorhaben, die Groschen wegzuwerfen, änderte das nichts. Die Tüte in eine der Mülltonnen auf dem Hof zu stopfen, kam mir allerdings würdelos vor. Also wartete ich, bis es Nacht war, fuhr mit dem Fahrrad nach Treptow und warf Nilowskys Schatz in die Spree.
36
Im Oktober wurde ich in die Armee eingezogen. Eggesin. Eine Gegend, in der es außer Armee fast nichts gab. Panzersoldat, Ladeschütze. Die Grundausbildung nahm meine Kräfte und meine Nerven dermaßen in Anspruch, dass ich jeden Abend todmüde ins Bett fiel und sofort einschlief. Ich hatte neue Freunde aus Thüringen, aus Sachsen, aus Mecklenburg und machte mir bald über nichts und niemanden mehr Gedanken, der nichts mit der Armee zu tun hatte.
Nach zwei Monaten jedoch leitete mir meine Mutter einen Brief weiter, auf dessen Umschlag keine Adresse stand, sondern nur: Carola und Reiner Serrini, Berlin-Weißensee . Ich war nicht wirklich überrascht, von den beiden einen Brief zu erhalten. Insgeheim hatte ich damit sogar gerechnet, wenngleich ich mir das nie und nimmer eingestanden hätte. Sie hatten offenbar geheiratet und sich den Namen »Serrini« zugelegt. Um nicht weiter zu mutmaßen, wie ihnen das gelungen war, entschloss ich mich, den Brief sofort zu lesen. Ich sperrte mich in eine Klokabine ein und öffnete das Kuvert.
Lieber Markus,
wie Du Dir vielleicht schon gedacht hast beim Blick auf den Briefumschlag: Wir haben geheiratet. Nur zu zweit, auf dem Standesamt, ohne Feier danach. Bittewundere Dich nicht über den Namen »Serrini«. Wir würden gern so heißen, und deshalb nennen wir uns so. Eines Tages, meint Reiner, wenn die Revolution gesiegt hat und wir im wahren, im echten Sozialismus oder sogar im Kommunismus leben, ist es ganz sicher möglich, den Namen zu tragen, den man tragen möchte. Dann werden wir ihn offiziell beantragen.
Was ich Dir aber vor allem sagen will: Reiner wünscht sich, dass Du uns besuchen kommst, sobald Du aus Deinem Armeedienst entlassen worden bist. Das
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