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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky
Autoren: Torsten Schulz
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Hosentasche, holte ihn wieder hervor und las ihn noch einmal. Haariges Gesindel, widerwärtiges Gesurre … Dieser blumige, etwas bemühte Stil passte nicht zu Nilowsky, fand ich. Den Gefängnisalltag als gute und wichtige Probe fürs Leben zu bezeichnen, war dagegen wohl ein Zugeständnis an die Gefängnisleitung, die den Brief ganz sicher las, bevor er hinausdurfte. Nilowsky hatte also gelernt, sich klug und geschickt zu verhalten. Was aber, fragte ich mich, hat es mit der Tanzfliege auf sich? Offenkundig hatte Reiner sie nicht getötet, weil er sie für eine Reinkarnation seiner Großmutter hielt oder seiner Mutter. Oder gar seines Vaters, den er mittlerweile bewunderte, weil er es geschafft hatte, sich selbst umzubringen, nachdem er die feige Tötungsabsicht des Sohnes durchschaut hatte. Oder vielleicht war ja auch Roberto die flügellose Fliege. Roberto, der bei einem revolutionärenEinsatz in der Heimat ums Leben gekommen war und nun hoffte, unter Nilowskys Vorhaut geklemmt und von dessen Sperma überflutet zu werden, um, dieserart getötet, eine erneute Wiedergeburt zu erleben und dadurch ein besseres Karma zu erlangen.
    Ich fragte mich, ob ich Reiner meine Überlegungen schreiben sollte. Ob er sich vielleicht sogar genau das wünschte, wenn er Carola schon gebeten hatte, mich den Brief lesen zu lassen. Außerdem fragte ich mich, wer in seiner Welt das Insekt war, das zur Hochzeit ausgesaugt wird. Sollte ich es sein? Oder er? Wer wäre im zweiten Fall der Bräutigam? Ich etwa?
    Es wäre ein Einfaches, dachte ich, die Adresse des Gefängnisses herauszufinden, in dem Reiner saß. Andererseits, und das war zweifellos eine Tatsache: Carola wollte mit ihm zusammenleben, sobald er wieder draußen war. Da hatte ich genaugenommen nichts mehr zwischen oder auch nur neben ihnen oder sonst wo in ihrer Nähe zu suchen. Abstand. Ablenken. Vergessen, selbst wenn es nur in langsamen, kleinen Schritten möglich sein sollte.
    Ich blinzelte in das Licht der Straßenlaterne, erhob mich und ging mit diesem Vorsatz nach Hause.

35
    Nicht nur dass ich mich immer mehr mit Mathematik und Physik, meinen Lieblingsfächern, beschäftigte, ich war auch nach wie vor Verantwortlicher für Solidaritätsmaßnahmen . Und als mich Manuela, die Klassenbeste, für die Funktion des Gruppenratsvorsitzenden vorschlug, willigte ich ein und ließ mich von der Klasse wählen. Ich hätte wohl noch weitere Aufgaben auf mich genommen, um mich abzulenken und Abstand zu gewinnen. Andererseits wollte ich nicht als Musterschüler gelten. Deshalb kaufte ich mir von meinem ersparten Taschengeld bei einem Mitschüler eine verwaschene Rotschild-Jeansjacke aus dem Westen. Ich tauschte die Jeansjacke gegen einen Parka, den Parka gegen zwei Platten von Deep Purple, die Platten gegen eine Jeans und eine andere Jeansjacke. Ich lernte zwar unverändert viel und fleißig, ging aber auch mit Freunden auf Partys, mindestens einmal in der Woche, immer häufiger.
    Das elfte Schuljahr ging zu Ende, und Carola hatte sich nicht mehr bei mir gemeldet. Trotz meiner Ablenkungsversuche konnte ich nicht aufhören, immer wieder an sie zu denken. Ich wünschte mir, sie wiederzusehen, und zugleich wünschte ich es mir nicht. Was wäre, fragte ich mich, wenn das mein ganzes Leben lang so bliebe? Ich würde niemals mehr frei sein.
    Im Frühjahr 1981, vier Jahre nach seiner Inhaftierung,sollte Nilowsky aus dem Gefängnis kommen, wenn er nicht schon wegen guter Führung vorher entlassen worden war. Aber ich hörte nichts von ihm und nach wie vor auch nichts von Carola.
    So ging schließlich auch das zwölfte – das letzte – Schuljahr zu Ende, und der Gedanke, nie mehr etwas von ihnen zu erfahren, beunruhigte mich mehr denn je. Sosehr ich es auch wollte, ich konnte diese Beunruhigung nicht abstellen. Ich musste etwas tun! Etwas, das mich mehr als bisher klarkommen ließ mit der komplizierten Situation, die so viel Unfreiheit in sich barg.
    Es war wieder September – Altweibersommer, 1981, fünf Jahre nachdem ich Nilowsky und Carola kennengelernt hatte –, als ich noch einmal in die Bahndammgegend fuhr. Zum letzten Mal, wie ich mir auch diesmal vornahm. Ich ging auf den Friedhof, an den Urnengräbern von Onkel Antatsch, Tante Fettsucht, Analphabeten-Leo und Krebs-Käthe vorbei. Die Gräber waren mit Stiefmütterchen bepflanzt und sogar frisch gegossen. Wer sonst sollte das getan haben, wenn nicht Carola. Sie hatte zwar von Schlussstrich und Nie-mehr-Friedhof! gesprochen, aber sie
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