Nilowsky
hinzugefügt. Das machte auf mich den selbstbewussten Eindruck einer gemeinsamen Zukunftsvision. Es freute mich. Im nächsten Moment jedoch spürte ich wieder Wehmut: Die beiden waren zusammen, und ich gehörte nicht mehr dazu, allenfalls als Freund der Familie, oder wie immer das zu nennen sein würde.
Carola öffnete die Tür, noch bevor Nilowsky geklingelthatte. Als wäre Rauchen von nun an verboten, zog sie hastig an ihrer Zigarette. Dann sagte sie: »Na also, da ist ja die alte Truppe endlich mal wieder beisammen.«
Mehr als der saloppe Ton erschreckte mich Carolas Stimme, die noch viel heiserer klang als bei unserer letzten Begegnung auf dem Friedhof am St.-Joseph-Krankenhaus. Außerdem war ihr Gesicht so schmal, wie ich es noch nicht gesehen hatte. Es wirkte grau, fast wächsern. Mein erster Gedanke war, dass sie an einer Krankheit litt. Oder sie zeigte damit an, dass es ihr mit Nilowsky schlecht ging.
»Kommt rein!«, rief sie und ging voran ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch in der Mitte des großen Raumes standen Schüsseln mit Schweinebraten, Soße und Kartoffeln und eine Karaffe mit Weißwein.
»Das ist unser Festmahl«, verkündete Carola und drückte ihre Zigarette in einem Aschenbecher aus, der vor Kippen schon fast überquoll. Der Aschenbecher stand auf der Kommode, die ich aus Carla Serrinis Wohnung kannte, und neben der Kommode leuchtete das goldgelbe Kanapee mit den Blutflecken.
»Hoffentlich ist es auch dein Festmahl«, sagte Nilowsky zu Carola, und zu mir fügte er hinzu: »Am liebsten rührt sie nämlich keinen Happen an. Ich frag sie immer: Welcher Mann will sich denn schon einen Splitter einreißen, wenn er mit seiner Frau ins Bett geht? Das frag ich sie. Aber sie ist unerschütterlich. Bloß nicht mal ’n Gramm zunehmen. Nicht ein winziges Gramm.« Er legte seine Hand zärtlich auf Carolas Rücken, doch sie ging zwei Schritte von ihm weg, sodass Nilowskys Hand kurz in der Luft hing, ehe er sie zurückzog. Erschaute mich an und zuckte mit den Achseln, als wolle er sagen: Ja, so ist sie eben.
»Nun setzt euch schon hin«, forderte Carola uns auf. »Ihr habt euch ja bestimmt tausend Sachen zu erzählen.«
Ihr übertrieben aufgeräumter Ton verunsicherte mich noch mehr. Nilowsky setzte sich, ich mich daraufhin ebenfalls, und Carola lud uns große Portionen Fleisch, Kartoffeln und Soße auf unsere Teller. Sie selbst nahm sich von allem nur so viel, wie gerade nötig war, um nicht zu verhungern. Als Nilowsky Wein einschenkte, legte sie die Hand auf ihr Glas und schüttelte den Kopf, woraufhin Reiner zu mir in bemüht witziger Art sagte: »Wenn sie so weitermacht, vertrocknet sie auch noch. Du bist Zeuge, dass ich nicht schuld bin, wenn sie vertrocknet sein wird. Du bist Zeuge.«
Er hatte, wie mir schien, wieder den Drang, sie zu berühren, aber er tat es nicht. Stattdessen sagte er: »Erzähl ihm von der Gerichtsverhandlung! Wie es war. Für dich. Wie es für dich war. Erzähl ihm das!«
Es klang, als hätten die beiden miteinander verabredet, dass Carola, sobald Nilowsky sie dazu aufforderte, vom Schönsten und Wichtigsten ihres Lebens erzählte. Es klang feierlich, aber auch dringlich, und ich glaubte auch, einen ängstlichen Unterton herausgehört zu haben. Hoffentlich, dachte ich, erzählt Carola in einer Art und Weise, dass er sich freut oder sogar stolz auf sich sein kann. Hoffentlich macht sie mir endgültig klar, dass sie zu ihm und nur zu ihm gehört. Dass es ihr überhaupt nicht schlecht geht an seiner Seite. Dass sie auch nicht krank ist. Dass alles, was ich mir in dieser Richtung dachte, ein großer Irrtum war.
Carola kaute ein winziges Stück Schweinebraten zuEnde, grinste, schluckte das Stück Fleisch hinunter und sagte: »Wie es war? Es war wunderbar. So es war. Alles klar?«
Sie lachte über ihren Reim, Reiner und ich lachten mit ihr, und ich dachte: Da war es eben wieder, das dreizehnjährige Mädchen, trotz heiserer Stimme. Ihre Verwandlung hielt aber nur kurz an. Sie wurde sehr ernst, schob ihren Teller beiseite, zündete sich eine Zigarette an, und nachdem auch wir unser Essen unterbrochen hatten, begann sie zu erzählen: »Vor der Gerichtsverhandlung. Noch davor. Ich zu meinen Eltern. Bat sie, nicht gegen Reiner auszusagen. Gnade vor Recht, sagte ich und dachte: So ’n Quatsch. Denn eigentlich ging’s ja um Gerechtigkeit vor Paragraphen. Nun ja, eine Konzession. Das heißt, ich meine: ein Zugeständnis. Aber nix zu machen. Die Alte sagte nur: ›Der ist asoziales
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