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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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fort und löste ihre Hand von meiner. Sie nahm ein mehrfach gefaltetes Stück Papier aus ihrer Hosentasche und reichte es mir. »Er ist von Reiner. Für mich. Der erste Brief von ihm. Aber ich soll ihn auch dir geben. Du kannst ihn behalten, wenn du magst. Ich kenne ja den Inhalt. Lies ihn bitte nicht in meinem Beisein, das bringt Unglück, kannst du mir glauben. Lies ihn erst, wenn du allein bist. Am besten zu Hause in deinem Zimmer. Damit niemand dich dabei sieht.«
    Sie vermied es, mich anzusehen, während ich den Brief nahm und einsteckte. »Fremdwortaffinität« hallte es in meinem Kopf nach, was für ein affiges Wort. Was für ein blöder Zungenbrecher. Nie im Leben, dachte ich, werde ich fragen, was sie mit diesem Wort gemeint hat.
    »Ich muss los«, sagte Carola, drehte sich auf dem Absatz um und hüpfte koboldhaft, wie ich sie kannte, davon.

34
    Ich wollte den Brief erst zu Hause lesen, doch meine Ungeduld war so groß, dass ich mich ins Licht einer Laterne setzte, ihn aus der Hosentasche zog und auseinanderfaltete. Er war an Carola gerichtet, wie sie mir gesagt hatte, aber sie sollte ihn auch mir geben. Der Gedanke, dass es sich womöglich um einen Auftrag handelte, den nur wir beide erledigen konnten, war mir unbehaglich. Ich sah mich schon in einen Strudel von Unvorhersehbarkeiten geraten, der die ganze Situation mit Nilowsky, Carola und mir nur noch weiter verkomplizieren würde. Ich faltete den Brief wieder zusammen und schaute mich um. Konnte doch sein, dass Carola mich beobachtete. Um sicherzugehen, dass ich auch wirklich erst zu Hause las. Aber ich konnte sie nirgends sehen. Also faltete ich den Brief erneut auseinander. Und wenn schon, dachte ich, wo und wann ich lese, sollte immer noch meine eigene Entscheidung sein.
    Liebe Carola,
der Gefängnisalltag ist, wie Du wissen solltest, eine sehr gute und wichtige Probe fürs Leben. Man muss lernen, mit dem, was man hat, gut auszukommen. Man muss lernen, sich für das Wenige, das man hat, zu interessieren. Und das Wenige ist dann eben auch gar nicht mehr wenig. Ich habe begonnen, mich zumBeispiel für die Fliegen zu interessieren. Zuerst hab ich mich vor ihnen geekelt. Haariges Gesindel, das die Stille meiner Zelle immer und immer wieder mit widerwärtigem Gesurre zerstört. Ich schlug sie tot, die Fliegen, mit der flachen Hand schlug ich sie tot. Wenn sie auf meinem Tisch saßen oder auf der Zellentür umherkrabbelten oder frecherweise direkt vor mir auf dem Fußboden. Du glaubst nicht, was für eine Schnelligkeit ich entwickelte, um sie totzuschlagen. Die zermatschten Körper warf ich in den Mülleimer, die Flecken aber, die sie hinterließen, machte ich nicht weg. Überall in meiner Zelle diese Tupfer, wie kleine Gemälde.
    Eines Sonntagmorgens – vor etwa vier Wochen – sah ich ein krabbelndes Etwas, das sich an der Wand von Fleck zu Fleck bewegte. Ganz gezielt schien es sich zu bewegen und saugte an jedem Fleck, und die Flecken wurden von diesem Saugen blasser und kleiner. Ich dachte, es handele sich um einen Käfer, doch als ich näher an das Tier heranging, sah ich, dass es nichts anderes als eine Fliege war, eine Fliege ohne Flügel. Nach einer Weile, in der ich mich ebenso wenig bewegt hatte wie die Fliege, legte ich meine Hand neben sie an die Wand. Es vergingen keine drei Sekunden, da krabbelte sie auf meine Hand. Was für ein gutes, vertrauensvolles Karma, dachte ich. Unfassbar!
    Seitdem ist sie mein Haustier. Sie hat keinen Namen, ich nenne sie nur Fliege ohne Flügel. Ich sage: Guten Morgen, Fliege ohne Flügel. Oder: Na, wie geht’s, Fliege ohne Flügel? Seitdem ich sie als Haustier habe, stören mich auch die umherschwirrenden Artgenossen nicht mehr. Im Gegenteil: Ich habe mir aus derGefängnisbibliothek »Brehms Tierleben« ausgeliehen und alles über Fliegen gelesen. Was für eine Vielfalt! Und mein Haustier, ein dünnes, längliches Exemplar, ist eine Empis-Fliege, auch Tanzfliege genannt. Zur Paarungszeit, las ich, schwirren die Männchen mit ihrem Hochzeitsgeschenk, einem frisch gefangenen, unbeschädigten Insekt, durch die Gegend, bis sie ein Weibchen entdeckt haben. Hinter diesem jagen sie dann her, und wenn es einem Männchen gelungen ist, das Weibchen zu gewinnen, so übernimmt Letzteres das geraubte Insekt und saugt es während der Paarung aus. Das wollte ich Dir schreiben. Bitte lass auch Markus Bäcker diesen Brief lesen. Ich denke an Dich und an unsere Zukunft.
    Ich faltete den Zettel zusammen, steckte ihn in meine

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