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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky
Autoren: Torsten Schulz
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wird erst in sechzehn Monaten sein, doch trotzdem will ich Dich schon wissen lassen, wann und wo Du Dich einfinden sollst. Bitte sei am 10. Mai 1983 um 20 Uhr auf dem Antonplatz in der Klement-Gottwald-Allee. Wir werden Dich dort abholen und in unsere Wohnung führen. Bis dann, und halte durch!
    Deine Carola.
    Das Erste, was mir einfiel, als ich den Brief zusammenfaltete, war: Konspirativität. Ich wusste inzwischen aus dem Fremdwörterbuch, dass konspirativ nichts anderes hieß als »verschwörerisch« oder »geheim«. Einfinden sollst … in unsere Wohnung führen … Das hörte sich an, als wären wir in einer Spionagegeschichte. Eine Marotte, sagte ich mir, die sie offenkundig gemeinsam hatten und nun mit Genuss teilten. Es war ein unangenehmes Gefühl, diesem Genuss gewissermaßen zur Verfügung stehen zu sollen.
    Noch mehr bekümmerte mich etwas anderes: Selbst wenn ich den Zettel augenblicklich wegwerfen würde, würde mir der Termin nicht mehr aus dem Kopf gehen. Nie mehr! Die achtzehn Monate Armee, hatte ich gedacht,müssten ausreichen, um mich von Nilowsky und Carola frei zu machen. Jetzt hatten sie ein Datum und eine Uhrzeit in meinen Kopf gesetzt, und genau das – so empfand ich es – unterstrich nur meine Unfreiheit ihnen gegenüber.
    Tatsächlich verging fortan kein Tag, an dem ich nicht an diesen Termin dachte. Manches Mal nahm ich mir vor, ihn einfach zu vergessen; doch in dem Moment, in dem ich es mir vornahm, wusste ich schon, dass es mir nicht gelingen würde.
    Ich konnte noch so erschöpft sein nach irgendwelchen Dauermärschen, Manövereinsätzen, Schießübungen, Politweiterbildungen, Kompaniereinigungsaktionen, es nutzte nichts: Je näher der Termin rückte, desto stärker dachte ich an ihn. Natürlich wusste ich, dass ich ihn einfach verstreichen lassen könnte, dass ich nicht hingehen musste, dass mich auch niemand dazu zwingen konnte. Doch der Zwang war in mir. So stark, dass ich niemals würde Ruhe haben, wenn ich nicht hinginge.

37
    Am zehnten Mai, vierzehn Tage nach meiner Entlassung, fuhr ich mit der Straßenbahn nach Weißensee. Am Antonplatz stieg ich aus und verbarg mich hinter einer Straßenlaterne, ehe die Bahn weiterfuhr. Es war Viertel vor acht, und kurz überlegte ich, an der Laterne einen Zettel zu hinterlassen. Übermorgen, gleicher Ort, gleiche Zeit, keine Minute eher oder später . Wenn schon diese konspirative Marotte, dann konnte ich auch mitspielen. Doch ich verwarf den Gedanken sofort wieder. Ich wollte nur noch das Treffen hinter mich bringen und damit auch den Termin aus meinem Kopf bekommen, der sich sechzehn lange Monate in mein Gedächtnis eingebrannt hatte.
    Fünf Minuten vor acht. Ich schaute über den Platz und entdeckte, keine hundert Meter entfernt, an eine Straßenlaterne gelehnt, Nilowsky, der mich bereits im Visier hatte und mir zulächelte. Er sah mit Jeans und Jackett, kurzen, akkurat geschnittenen Haaren und der ungewohnt lässigen Körperhaltung wie jemand aus, dem es gut geht. Nichts mehr erinnerte an den abgemagerten Nilowsky mit den langen fettigen Haaren, der mich aufgesucht hatte, bevor er gefasst und eingesperrt worden war.
    Ich bemühte mich um die gleiche lässige Haltung, während ich auf ihn zuging. Erst im Näherkommen bemerkteich, dass der erste Eindruck mich getäuscht hatte. Sein Hals war fetter geworden. Der Adamsapfel war kaum noch zu sehen, und sein Gesicht wirkte aufgedunsen.
    »Markus Bäcker, immer pünktlich wie die Feuerwehr«, rief er mir anerkennend zu und breitete seine Arme aus. Ich nahm die Umarmung an und fühlte mich wohl, als mein Kopf für zwei oder drei Sekunden an seiner Schulter lag und seine Hand ein paarmal sanft auf meinen Rücken schlug. Zugleich überraschte es mich, dass ich mich wohl fühlte. Es verunsicherte mich. Ich nahm mir vor, mich von nun an nicht mehr gehen zu lassen und Distanz zu wahren. Wie bei der Beerdigung seines Vaters roch Nilowsky stark nach Rasierwasser, aber ich hätte schwören können, es handelte sich um eine andere, bessere Sorte.
    »Komm mit!«, sagte er, löste sich von mir und ging voran über den Fahrdamm. Dieses altbekannte »Komm mit!«. Als wären nur einige Tage, höchstens ein paar Wochen vergangen. Ohne ein Wort zu sprechen, liefen wir ein kurzes Stück die Straße entlang, bis Nilowsky einen dunklen Hausflur betrat, der nach Urin stank.
    Die Wohnung der beiden befand sich in der ersten Etage, am Klingelschild stand: Reiner und Carola Nilowsky , in Klammern war Serrini
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