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Nimm dich in acht

Nimm dich in acht

Titel: Nimm dich in acht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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hatte.
    »Unsere Nachbarn hielten es für einen sozialen Aufstieg, als sie Manhattan verlassen und mit der ganzen Familie in die South Bronx übersiedeln konnten«, pflegte sie zu sagen, um dann schallend zu lachen. »Tja, alles verändert sich. Die South Bronx war damals das platte Land, und hier standen überall Mietskasernen. Jetzt gilt dieser Stadtteil hier als schick, und die South Bronx ist eine Katastrophe. So ist das Leben.«
    Ihre Freunde und die Leute, denen sie im Park begegnete, hatten die Geschichte schon etliche Male gehört, aber davon ließ sich Hilda nicht abschrecken. Die kleine, knochige alte Dame mit dem sich lichtenden weißen Haar und den scharfen blauen Augen erzählte für ihr Leben gern.
    An klaren Tagen ging Hilda zu Fuß zum Central Park und setzte sich dort auf eine sonnenbeschienene Bank. Da sie mit Leidenschaft ihre Mitmenschen beobachtete, war sie bemerkenswert scharfsichtig und gab ohne Scheu zu allem ihren Kommentar ab, was ihrer Meinung nach nicht mit rechten Dingen zuging.
    So hatte sie einmal aufs schärfste ein geschwätziges Kindermädchen zurechtgewiesen, dessen Schützling sich vom Spielplatz entfernte. Sie schimpfte regelmäßig Kinder aus, die Bonbonpapier auf den Rasen warfen. Und nicht selten hielt sie einen Polizisten an, um ihn auf einen Mann hinzuweisen, der nichts Gutes im Schilde führen konnte, da er sich am Spielplatz herumtrieb oder ziellos umherschlenderte.
    Die Polizisten, deren Geduld arg strapaziert wurde, hörten ihr stets höflich zu, nahmen Hildas Warnungen und Anschuldigungen zur Kenntnis und versprachen, ihre Verdächtigen im Auge zu behalten.
    An diesem Montag hatte ihr ihre ausgeprägte Beobachtungsgabe gute Dienste geleistet. Um kurz nach vier, auf dem Heimweg vom Park, als sie im Gewühl der Fußgänger auf das Umschalten der Ampel wartete, stand sie zufällig hinter einer schick angezogenen Frau mit einem braunen Umschlag unter dem Arm. Hilda wurde durch eine plötzliche Bewegung auf einen Mann aufmerksam, der nach dem Umschlag griff und mit der anderen die Frau vor den Transporter stieß. Hilda hatte sie warnen wollen, aber es war schon zu spät gewesen.
    Wenigstens hatte sie deutlich das Gesicht des Mannes gesehen, bevor er in der Menge verschwand.
    In dem wilden Durcheinander, das folgte, wurde Hilda angerempelt und nach hinten abgedrängt, bis ein Polizist, der dienstfrei hatte, das Kommando übernahm und rief:
    »Polizei! Zurücktreten!«
    Beim Anblick der zusammengesunkenen, blutenden Frau auf dem Gehsteig, deren elegantes Kostüm von Reifenspuren beschmutzt war, fühlte sich Hilda einer Ohnmacht nahe. Sie erholte sich jedoch wieder so weit, daß sie mit dem Reporter sprechen konnte. Dann trat sie mit Mühe den Heimweg an. In ihrer Wohnung brühte sie mit zitternden Händen Tee auf und trank ihn Schluck für Schluck.

    »Das arme Mädchen«, murmelte sie, als sie den Vorfall in Gedanken noch einmal durchlebte.
    Schließlich hatte sie wieder genügend Kraft geschöpft, um beim Polizeirevier anzurufen. Mit dem diensthabenden Sergeanten, der sich meldete, hatte sie in der Vergangenheit schon mehrmals gesprochen, gewöhnlich wenn sie Schnorrer anzeigte, die sich auf der Third Avenue an Fußgänger heranmachten. Er hörte sich ihre Geschichte geduldig an.
    »Hilda, wir wissen, was Sie denken, aber Sie irren sich«, sagte er beschwichtigend. »Wir haben mit vielen Leuten gesprochen, die dabei waren, als sich der Unfall ereignete.
    Das Gedränge, das hinter ihr entstand, als die Ampel auf Grün umsprang, hat dazu geführt, daß Mrs. Wells das Gleichgewicht verlor und stürzte, das ist alles.«
    »Ein absichtlicher Stoß in den Rücken hat dazu geführt, daß sie das Gleichgewicht verlor und stürzte«, fuhr Hilda auf. »Er hat sich den braunen Umschlag geschnappt, den sie bei sich trug. Ich bin erschöpft und gehe jetzt ins Bett, aber richten Sie Captain Shea etwas von mir aus. Ich will mit ihm sprechen, sobald er morgen früh ins Revier kommt. Punkt acht Uhr.«
    Empört legte sie auf. Es war erst fünf Uhr, aber sie mußte sich hinlegen. Sie hatte ein Engegefühl in der Brust, das nur eine Nitroglyzerintablette und Bettruhe lindern konnten.
    Wenig später hatte sie ihr warmes Nachthemd angezogen und unter ihren Kopf das dicke Kissen gelegt, das es ihr erleichterte zu atmen. Die stechenden Kopfschmerzen, die jedesmal nach Einnahme der Pille auftraten, ließen allmählich nach. Auch die Schmerzen in der Brust wurden schwächer.

    Hilda seufzte

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